Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 23

Eine Annäherung

Der Performance Künstler JÜRGEN KLAUKE


Bei Klauke sind die Stimmen immer kontrovers, so auch seine Berufung als Gastprofessor an die Münchner Kunst Akademie.
Die Einen spekulierten mit dem Begriff des Hermaphroditen, die Anderen handelten ihn als den bedeutendsten Performance Künstler.
Fragil von Erscheinung, saß er in behäbiger Pose in Punklederkluft mit ausgebreiteten Armen wie ein »Grand Hotel Manager« hinter dem Tisch. Das Tremolo tief und krächzend. Mitte vierzig.
Nach Absolvierung eines Graphikstudiums, Jahren der suchenden Karenzzeit, wandte er sich der Selbstdarstellung zu, wobei das ICH BIN immerfort Verwandlungen beschwor und gesellschaftliche Klischees aufs Korn nahm.
Wir sprachen die Sprache der Stunde, suchten nicht erst die unterschiedlichen Standpunkte, sondern begannen sofort mit Jean Genet und Antonin Artaud, in denen wir Antipoden ihrer Zeit erkannten.
Der Raum, in dem wir uns in der Diagonale zueinander befanden, schimmerte matt im Tageslicht. Zuweilen bewegte sich die große Pappel vor dem hochgelegenen Fenster und ließ zaghafte Sonnenstrahlen eindringen.
Inmitten des homoerotischen Bereichs von Miracle de la Rose von Jean Genet, klopfte jemand an die Türe und schob seinen kurzgeschorenen Kopf durch den Türspalt: »Oh, störe ich!?«
»Nein, komm'rein!«
Klauke rückte seinen Stuhl zurecht und streckte die ausgebreiteten Arme über die Tischplatte.
Doris, so hieß die junge Künstlerin, trat mit einer Mappe versehen näher; ihr elfischer Blick galt uns wechselweise.
Die Mappe lag prompt auf dem Tisch. Zu sehen gabs keine fertigen »Produkte«, vielmehr Skizzen zu fotographischen Bewegungsabläufen, großteils aus der Vogelperspektive gestaltet.
Zum Abschied hinterlegte die Studentin noch einige mit Illustriertenmaterial versehene Skizzenbücher und ging wie gekommen.
Klauke trank einen Schluck aus der Coca-Cola-Dose und blies den Rauch seiner Zigarette aus, dabei zur Debatte stellend: »Ja, das ist das Geschäft hier!«
Hierbei schob er mir mehrere Bildbände zu, in denen er, ausgehend von tagebuchartigen Aufzeichnungen, zu einer Schriftbildauflösung in die Zeichenhaftigkeit der Linien kam. Gleichsam als Nachhut komplettierte er diese durch andere Druckerzeugnisse, die er im Laufe der Jahre von seiner Arbeit hatte veröffentlichen können. Einem Oeuvreverzeichnis gleich angeordnet, enthielten sie seine Performance Aktionen, die ihn durch das europäische Ausland und die USA geführt hatten.
Verabredungsgemäß traf ich ihn Tage nachher wieder hinter dem Kreuztisch, die Ellenbogen auf der Tischplatte abgestützt, vor sich einen Bildband, in den er seine »Aufzeichnungen« einfügte, die vom geschriebenen Wort zur Linearität des Zeichenhaften übergingen.
Auf meine Frage, ob die aufschnellende Hand eine Bewandtnis habe, verwies er mich auf die Schwingungen des Moments, die Zeichenhaftigkeit der Gebärde, die die Hand auf dem Papier durch die Linien bewirkt. Dies nicht unähnlich dem Ritus, den Artaud für die Theorie des Theaters der Grausamkeit entwickelte, nur geräuschloser: die Gebärde im Gefälle der Linien. Schließlich fände Analoges in seinen Performances statt, die darin ihren bildhaften Ausdruck erlangten.
Indes trieb er seine Aufzeichnungen voran, warf gelegentlich einige Worte zu seinem Lebensweg hin, der vom Wirtshausdasein bei den Eltern, über eine Werkkunstschule, zehn Jahre des auswegslosen Existenzkampfes, allmählich zu seinem ganz persönlichen Ausdruck führte.
Um der Stille wieder sein persönliches Maß zu verleihen, erwähnte er, daß er die kommenden Tage seine Video Clips vorführen werde. Unter anderem auch: »The Harder they come« Architektur einer Stadt , so der Untertitel. Diese Performances hatte er zurerst in Belgrad, nachher in Wiesbaden und auf der Art Basel vorgeführt.
Die Kamera oberhalb des Geschehens postiert, so daß sie die ganze Szenerie über blicken konnte: ein labyrinthartiges Klinkergemäuer, lose aufeinandergeschichtet, ungefähr 2 Meter in der Höhe, die Länge indes nicht schätzbar. Als Hintergrundkulisse die titelgleiche Rockmusik. Monoton und eindringlich.
Klauke lief anfangs stets, dann zunehmend seinen Schritt beschleunigend, durch das Mauergewirr: alleine, die Einsamkeit des Einzelnen wachrufend, der in den Betonschluchten unserer Großstädte sich »verirrt« hat.
Fall um Fall wurde die Nervosität in dem Akteur offenkundiger. Sein Irrgang, sein »Gefangensein« in der Auswegslosigkeit des Labyrinths potenziert seine Platzangst. Er eckt ans Mauerwerk an, reißt Teile dabei herab, reißt immerzu Teile herab, stürzt sich gegen die Mauer, sie fällt ... Mauer und Individuum bilden den Ausweg aus dem Labyrinth: die Revolte gegen die Mauer und sich selbst! (In Anlehnung an Albert Camus »Wir wollen die Pforte und den Ausweg nicht anderswo suchen als in der Mauer, an deren Fuß wir leben«.) Betretene Stille im Raum. Keine Fragen. Der Monitor dröhnte, keiner vermöchte, ihn abzuschalten, stattdem: endloses Geflimmer: das Finale von »The harder they come«?
Die 175 Jahrfeier der Münchner Kunst Akademie stand bevor: Daniel Spörri, der Spiritus Rector von zugkräftigen »Séancen«, projektierte ein Akademiefest, zu dem auch Klauke seinen Part beisteuern sollte.
Klauke fackelte nicht lange und kreierte eine Performance.
Ein 4 x 4 Meter zentrierter Lichtkegel, linksseitig eine Stehleiter, an deren rechtem Außenteil ein Wasserschlauch in die äußerste Höhe führte und in einen auf der letzten Sprosse stehenden Eimer einmündete. Das Wasser im Eimer schwappte unvermittelt über, breitete sich auf dem Parkettfußboden zu einer größer werdenden Wasserlache aus. Die Atmosphäre diffus. Kollektive Aufmerksamkeit im Raum. Nach einer Weile erscheint Klauke nebst Freundin, versehen mit je einem Reisigbesen. Geschwind gruppieren sie sich im Aktionsradius, kehren zügig, hintereinander formiert, rechts und links.
Die Wasserlache auf dem Parkettfußboden verliert sich in der Unebenheit des Bodens. Der Staub wirbelt auf, bildet Wolken, die durch den Kehrvorgang der Protagonisten wieder unterbrochen werden. Seitwärts auf Stühlen: zwei Typen in der Schräge zueinander plaziert. Sie könnten beliebige Besucher in einem Kino sein. Teilnahmslos starren sie drein, unberührt von dem Geschehen, das seine Dimension entfaltet. Nur das durchdringende Geräusch der Reisigbesen auf dem Holzfußboden sowie das »Blubb/Blubb« des Wassers, das zuzeiten durch programmatische Diaeinblendungen untermalt wird: »Jede Gesellschaft hat die Kunst die sie braucht!« wozu schallend Rockmusik als Stimmulus erklingt, schafft die Kulisse.
Die Kärglichkeit der Mittel ruft die Elemente wach, in dessen Gefolge der Gleichklang der kehrenden Akteure eine Metapher von Fernando Pessoa auf den Plan ruft: »Autour du puits, dans le jardin de ma maison, I'âne tourne en rond, toujours en rond et le secret du monde a le mème visage«. Die ewige Monotonie des Seins? Abrupt erhebt sich einer der beiden Typen, tritt auf sein Vis á Vis zu, schlägt ihm ins Gesicht und geht wortlos davon. Zugleich erschallt die Rockmusik in einem furiosen Solo des Bassisten, peitscht förmlich die Stille, die Staubwolke auf, bricht inmitten des Akkords ab: Klauke und seine Freundin werfen die Reisigbesen hin, gehen fort. Zurück bleibt das verwaiste Ambiente: der Lichtkegel, die Stehleiter, das endlos plätschernde Wasser, zweihundert benommene Zuschauer, die noch immer auf das Finale warten; sehr lange warten, warten, bis einige der Nachahmungstrieb beflügelt, zu kehren, wo nichts zu kehren ist, den Besen hinwerfen,wo die Spannung im Raum sich auflöst, voll von »DU UND ICH«, der Performance des Jürgen Klauke und seiner Freundin.

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 25

Für uns ist die Sonne
nicht mehr Gott

Eine Begegnung mit TONY CRAGG


»Ich arbeite ja nicht mit Abfall, der Abfall steht dort, er wird jetzt abtransportiert«.

Wuppertal am Nachmittag: regnerisch trüb. Ein Taxi beförderte zum Stadtrand. Verstohlen blickte der Chauffeur den Fahrgast im Rückspiegel an. Spärlicher Verkehr auf den Straßen; selten spielende Kinder auf den Trottoirs. Bewölkter Himmel, Leere, die die Witterung verursachte.
»Zehnmarkachtzig!«, erbat der Chauffeur, den Wagen an einer Straßenbiegung parkend. Der Fahrgast entrichtete den geforderten Betrag, ergriff seine Reisetasche und trat in den Innenhof eines Industrieklinikerbaus der Jahrhundertwende, auf der Suche nach Tony Craggs Atelier.
Die Biennale in Venedig hatte ihn gerade geehrt, doch das war nicht der Grund seines Besuchs. Eher das poetische Element in Craggs Arbeit.
Ohne die Klingel zu gebrauchen schritt der Besucher in den Flur, und auf halber Treppenhöhe in eine vormalige Werkhalle, jetzt Atelier des Künstlers.
Unvermittelt sprach er einen am Boden hantierenden jungen Mann an.
»Wo finde ich Tony Cragg?!«
»Dort, vorne!«
Der Besucher wand sich durch allerhand Fundstücke und Skulpturen zu dem angewiesenen Platz.
»Hallo!, hier bin ich«.
»Hast du dich in Wuppertal zurechtgefunden!?«
»Jaja, ein Taxi ... «
»Heute regnets, ein englisches Wetter, ich liebe es. Entschuldige, ich muß weiterarbeiten.«
»Bitte!«
Ein großer Styroporwulst erlag dem Brotmesser und der Holzraspel in seinen flinken Händen.
»Weißt Du schon was es wird?«
»Nein, die Form ergibt sich während der Arbeit. Ich mache viel, was ich wieder verwerfen muß. Sehr untaktisch, fast gegen die Tendenz! Manchmal arbeite ich eine Woche an einem Stück und sehe, es ist Schrott. Ich gehe immer schrittweise voran, was ist als Thema schon in meinen Arbeiten vorhanden, was kann ich hinzufügen, damit Hybriden, eben Kreuzungen entstehen. Trotz der Rückschläge . . ., ich wollte Bildhauer werden und nichts anderes. Nicht Produzent von irgend etwas! Ich evoziere eine Welt und sehe meistens sofort, ob sie eine Funktion für mich hat. Das erkenne ich auch bei anderen Künstlern; sind es Stellungnahmen zum Leben oder nicht . , denn Kunst ist ja das eigentliche Ereignis im Leben, das die Bedeutung des Daseins schafft.
Mich interessiert die Zeit als Dauer, das was über meine Lebensspanne reicht. Mitunter tritt dies auch in meiner Arbeit hervor: altes Holz, Plastik, Gips, und neuerdings Bronze, vier verschiedene Materialien verkörpern einen unterschiedlichen Zeitbegriff . Früher verwendete ich nur vergängliche Materialien, doch mit den Jahren wollte ich meine Arbeiten in die Zeit retten, wie man sagt.
Ich weiß nicht, warum die Leute immer meinen, ich ironisiere; vielleicht bin ich ein von Natur aus ironischer Mensch?
Verwende ich doch nur Materialien, die Ende der 60iger Jahre von Künstlern wie Donald Judd und anderen in die Kunst eingeführt wurden; die einzige Leistung, die ich mir zuschreibe, ist Kunststoff, den ich seit Anfang der 70iger Jahre verwende. Liegt darin die Ironie?
Mehr als die ironische Anspielung suche ich die ursächliche Bedeutung in den Dingen, dies könnte man als mein Credo bezeichnen.
Ich arbeite immer mit einem absoluten Glauben, daß es eine wichtige Arbeit sei, dann steht sie da, und die ersten Zweifel machen sich breit.
Da fällt mir gerade ein Wandrelief aus Kunststoff ein, das ich 80/81 machte, und in dem ich eine SPÜLlflasche gebrauchte; sie ergab im Raum ein figuratives Element, eine reale Position auf dem Fußboden, mehr als wenn die SPÜLlflasche dort ihren Platz gehabt hätte. Sie korrespondierte mit einem archäologischen System, an der man inzwischen eine Kultur mißt, und verdeutlichte die Notwendigkeit des Körpers, Behälters (= Corpus) für jede Kultur.
Auch in Boschs Bildwelt nehmen wir »Behälter« wahr, in denen, wie auf kleinen Planeten, Mikrokosmen existieren. Im Unterschied zu Bosch sind die »Behälter« in meiner Arbeit unbevölkert, enthalten nur atmosphärische Prozeße, die in Raum und Zeit stattfinden.
»Sorry! Ich muß mich kurz um die Lieferanten kümmern ... «
»Was habt Ihr gebracht?!«
»Styropor und Gips ... «
»Wart Ihr wegen dem Holz unterwegs?«
»Ja, aber der Wagen war randvoll.«
»Was gibt es für Holz?«
»Alte Balken!«
»Gut!, räumt den Wagen aus und holt dann das Holz!«
»Aber für das Holz brauchen wir noch Geld!«
»Dort liegt meine Hose, nehmt was ihr braucht!«
»Wo wurden wir unterbrochen?«
»Bei Bosch!«
»Hm, Bosch ... Wuppertal ist der ideale Ort für mich zu arbeiten. Hier ist ein ganz bewegtes Klima. Es regnet viel. Der Himmel ist hier ganz anders. Ich ersticke hier ab und zu; man hat das Gefühl in England zu sein.
Auch das Licht ist hier angenehm; die Atelierkosten gering. Eigentlich bin ich sehr unprogrammatisch. Ich sage mir, Hoffnung ist, man schafft sich Hoffnung. Immer wieder bin ich dabei Vorstellungen und Ideen aufzubauen, die in einer neuen Konstellation erscheinen. Vielleicht liegt dies an meinem Grundgefühl? Mein Optimismus ist eigentlich ein Pessimismus. Dieser Widerspruch macht mich nervös, gibt mir Energie, zwingt mich zum Handeln, zum Bewegen, zum Machen ... Dadurch mißlingt mir auch manches, denn das Resultat kann ich ja nicht steuern. Es ist ein fortwährender Prozeß ...
Und gerade wenn ich mir die Kunstgeschichte dieses Jahrhunderts ansehe, die gleichsam den Prozeß mit einbezog, fühle ich mich in meiner Haltung nicht irritiert. Aber es ist noch etwas anderes, das mich immer wieder in Erstaunen versetzt: die Kunst dieses Jahrhunderts ist erstmals nicht mehr ein Machtsubliment einer kleinen Gruppe von Menschen. Das ist eine wahnsinnige Wandlung, die allmählich anerkannt wird. Gerade wo Menschen über Freiheit und dergleichen reden, die in der Kunst quasi vorgegeben wird, denn jeder Künstler schafft eine ungeahnte Welt, die Vorstellungen und Inhalte anbietet, die ein wahrer Reichtum ist. Ich glaube, daß Kunst den Menschen das Gefühl gibt, nicht alleine in diesem Universum zu sein. Wiewohl Kunst kein Ersatz für Religion ist. Denn Kunst, Wissenschaft und Religion sind schon immer intipodische Bereiche in der Menschheitsgeschichte gewesen. Es ist wie mit der Sonne. Wir wissen, daß die Sonne nicht mehr Gott ist, daß ihr Vorhandensein von Millionen von Explosionen abhing; weil wir uns mit wissenschaftlichen Erklärungen abgefunden haben. Also wissen wir, was die Sonne ist, aber natürlich wissen wir nicht, was die Sonne ist.
Leute fragen mich immerzu: »Warum machst du Bildhauerei?!«
Eben weil es Dinge gibt, die nicht da sind, also muß ich sie machen.
»Warum macht man Kunst . . ? Okay, ich muß weitermachen, denn ich werde nicht schlafen können, bevor ich ein Stück damit vorangekomen bin.«
Liegt das Fundamentale in der Begründung, fragt sich der Besucher unvermittelt. Nein, setzte er selbstredend hinzu, das Fundamentale wird in der Entäußerung, im Schaffen erst.
Nochmals schritt er bis zur Ankunft des bestellten Taxis durch das Atelier Craggs: Fragmente eines Mikrokosmos türmten sich zu seinen Füßen. Wie sagte Tony Cragg:
»Weil es Dinge gibt, die nicht vorhanden sind, muß ich sie schaffen! «
Der Taxichauffeur stand mittlerweile wortlos in der geöffneten Tür, bis der Besucher ihn wahrnahm.
Ein starker Regenschauer ergoß sich vom Himmel. Hindurcheilend nahm der Besucher auf dem Rücksitz Platz und schaute durch den verregneten Wagenfond den durch die Jahre gezeichneten Häuserfronten nach. Kein Alltagsgeschehen mehr auf den Straßen. Leere und Regen, und der Besucher mit seiner »Beute« des Gesprächs im Gepäck auf dem Rückweg zu einem anderen Ort.

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 26

Den Dingen ihren Wert
zurückgeben

Ein Portrait des Künstlers KUNO LINDENMANN


Häufig nahmen wir das Leben somnambul. Tschernobyl lag gerade zwei Tage zurück und unsere Schritte eilten nicht mehr »so« sorglos die Treppenstufen hinab. Plötzlich hatte uns die Sinnlosigkeit allen Tuns überrannt. Wir erwogen Äther; suchten spontan die nächstliegenden Apotheken auf, doch unser Gesichtsausdruck verriet die Absicht.
Kuno sprach von den drei Fischern in der Camargue, denen er eines Morgens begegnete. Sie hatten ihre neues Netz eingeholt, und statt reicher Beute an Fischen, war nur verklappter Industriemüll und Plastikrückstand darin. Gemeinsam befreiten sie das Netz von dem vermeintlichen Gut und brachten ihre Wut mit jedem neuerlichen Handgriff zum Ausdruck. Nach Beendigung machte sich Kuno als Strandläufer auf, schuf Ritzen in die Sanddünen und sammelte den umliegenden Zivilisationsmüll, von dem er annahm, ihn später künstlerisch zu verwenden. In Algen verwobene Plastikreste füllt er vakuumverpackt in Dosen; doch der Zeitlauf relativiert, schafft unversehens neue Impulse, die künstlerisch zu verarbeiten herausfordern.
Verbarg sich nicht an jedem Ort unter der Oberfläche des »Lackes« die Erosion, die unvermittelt Aktualität signalisiert?
Es entstehen »Ritzbilder«: plane, große, glatte Flächen, die nach dem Prinzip des zivilisatorischen Eingriffs in die Natur gestaltet sind; Erdschichtungen in Siena, Umbra, deren Oberfläche aufgeritzt und wieder überpudert, überdeckt wurden, wobei die Pigmentteile ähnlich dem Dünensand durch Wind oder Luftzirkulation verweht werden. Alles wird nur für den Augenblick existent ... (»Was sich allegorisch verkörpert im Wegfliegen von Pigmentstaub vom Bildträger«, B. Gaitzsch 1976 über K. Lindenmanns Ritzbilder).
Ein DAAD-Stipendium für Maastricht ermöglicht eine veränderte Arbeitssituation. Die ersten Installationen werden in der Wandfläche verankert. Das konventionelle Geviert des Raumes wird in Frage gestellt. Oben und unten entsprechen nicht mehr der geläufigen Symmetrie; sie werden marginaler Widerstreit in einer Architektur, die ihr Versagen mit dem ersten Spatenstich in Abrede stellte. Hier werden die Wanddurchbrüche zu autonomen Zeichen; die in den Flur überlappenden Balken zu neuartigen Bedeutungsträgern an der Fläche der Wand: zwei parallel verlaufende Tangenten bilden die axiale Balance, zu der in Widerstreit die durch die Wand gesetzten Holzbalken treten. Jute, verschlissene Balken und die Pigmentierung wecken Assoziationen an Planken einer Arche Noah, die ihre Sinnfälligkeit in dieser Installation als Relikt des Seins verkörpert. Die Installation opponiert in ihrer Form gegen den tradierten Kunstbegriff dieser Jahre und beginnt doch in ihrer Archaik zu dialogisieren: die Aktion wird zur künstlerischen Metapher des Ziels.
Bedeutungsträger wird fortan die Rohheit, Sprödigkeit des Materials, wobei es nachgerade unterschiedslos bleibt, ob es Produkte des Abfallcontainers oder neue industriegefertigte Produkte sind. Sie werden amalgamiert und stehen für ein künstlerisches Synonym: »Kuno Lindenmann geht durch die Wände. « In dessen Vollzug entstehen Skizzen, aber auch eigenständige bildnerische Gleichnisse, Synergien zu den Installationen, die das Thema intonieren. Heftig aufgetragene Schraffuren in Teer oder grell bis verhaltenen Farben nehmen sich aus wie Applikationen einer Obsession. Die Widerspiegelung konstruktiver Emblematik in diesen Arbeiten verweist auf den Topos der Tradition. 1982 treten erneut nur umfänglicher Elemente der Maastricher-Installation im Kunstforum Maximilianstraße zutage. Diesmal drei Ebenen: der Raum, seine Verspannung nebst Durchbruch und mittelteilig aus der Versenkung kommend, splittrige Balken, mit Farbe und Teer gehöht. Auch hier steht die Installation im Widerspruch zur Betonarchitektur des Raumes, der zufällig nach Fertigstellung für Ausstellungen zu erübrigen war. Einmal mehr erweist sich die Perfidie der öffentlichen Planer an dieser Restarchitektur, für die keine andere Verwendung geeignet schien, als sie dem (Narren)Treiben der bildenden Künstler zu überlassen.
Kuno Lindenmann ging auch hier unbeirrt mit Presslufthammer an die Statik und schuf eine symbolträchtige Inszenierung, deren kühner Entwurf Erstaunen und Befremden bis Irritation bewirkte. Helmut Friedel, der Kustos der Städtischen Lenbachgalerie, dem dieser Raum zugeordnet ist, sprach von »Konfiguration, von der Wiederverwendung von Bauschuttmaterialien« usw.' Doch damit löste er keine Interpretation, obwohl die Installation gerade durch ihre Korrespondenz zur Siebeneckigkeit des Raumes im Verhältnis zur Dreiteiligkeit der Installation stand (hierbei denke man nur an die Mythologie oder an Hegels »Trichotomie« u. a.) und gerade durch die Verspannung der Wandfläche zur Bodenfläche eine neue Sicht der Volumina ermöglichte.
1983 ergab sich für Lindenmann erneut die Möglichkeit, im IngolstädterKunstverein eine vielschichtige Installation (man spreche hierbei besser von Environment) in Verbindung mit einer größeren Werkschau zu installieren. War es im MünchnerKunstforum noch ein Kokettieren mit der plastischen Form (». . . ich bin ja kein Skulpteur . . .«), so trat diese hier pur in ihrer brachialen Gewalt hervor. Wieder ist die Trinität augenfällig, die zueinander im Maßstab von 1500x100x40/800x60x18/ IOOOXIIOX60 cm ihre Dimension entfaltet: Schichtungen, Überlagerungen, Verschränkungen, auch hier gehöht mit Teer und einer Skala von Gelb bis Oliv. Ein Zwischenton, der ins Schrille und Heftige abgleitet. Wenn der Schlußakkord einer Symphonie erklungen ist, hallen die einzelnen Tempi noch lebhaft nach; gleichfalls hier: Glasscherben auf dem planen Betonboden, unterhalb der 90 Grad der Installation, die zu einem entschlossenen Schlußsatz nach außen durch das Gemäuer dringt, auf Anfang und Ende verweist. Es ist die Symphonie über die Sonne, die sich allmählich in der nahenden Nacht verliert, der ewigen Wiederkehr: ungestüm bis verhalten ragen die Glasscherben aus der Schichtung, die zugleich ihre Symmetrie bildet, hervor. Unter und Überlagerungen changieren den Moment, in dem die Sonne und die Nacht sich kreuzen, eine Einheit schaffe n.
Die verwendeten Materialien stehen in der Beredsamkeit zeit- und individualgeschichtlicher Prägung: wieder sind es Balken, Fenster und Fensterstöcke, die in einer aufgelassenen Architektur ihre Zweckmäßigkeit eingebüßt hatten für ein künstlerisches Credo. Wieviel Hoffnung, wieviel Verdruß mag sich mit jedem der unzähligen Fensterflügel verbinden? Türen geschichtet, auch sie sprechen Legion an Leben.
Die ausgestellten Skizzen und Ritzbilder illustrieren den Werdegang bis zu dieser Installation, deren Impromptus sie unvermittelt werden.
In »So zu sehen«, 1984 in den Künstlerwerkstätten der Münchner Lothringerstraße, installiert Kuno Lindenmann wiederholt ein frenetisches Holz Glas Szenario, diesmal von einem Raum zu einem nächst größeren Raum vordringend; aggressiv gebündelt treten die splittrigen Balken zur Raumdecke, den Affront mit ihr suchend. Teerspritzer künden auf dem Boden Schraffuren des Arbeitsvorgangs an. Ihr Lineament in Verbindung mit dem Verputz und Gestein, das durch die Durchdringung der Wand in einer neuen Anordnung auf dem Boden liegt, bezeugt die Verwandlungsfähigkeit geläufiger Termini, nannte sich doch die Ausstellung: »So zu sehen«!
Auf der UCRONIA in Turin 1987 wird die Modifikation Lindenmannscher Installationen offenkundig. Waren es vordem der Vertikale verschriebene Environments, sind es nunmehr der Horizontale verpflichtete Inszenierungen. Sie sind plötzlich ausladender; mehr auf das Signal ausgerichtet.
Anläßlich des Cité Arbeitsstipendiums experimentierte Kuno Lindenmann in Paris mit Ytongsteinen, die mit horizontalen, ungleich hohen Glasfieberstäben bestückt sind (äußerer Anlaß war der Challangerblackout«); letztere mit postmodernen Türschlössern beschwert, so daß eine Dehnung, eine Schwingung durch die Türschlösser mittels der Glasfieberstäbe stattfindet. Sie tragen den sinnreichen Titel: »Schloß damit« 66teilig, eine Anzahl, die sich aus der Form ergab, z. T. hochglanzpoliert, spiegeln sie den Widersinn alltäglichen Maskenspiels. Aufmerksame Galeriebesucher konnten diese neuesten Arbeiten Kuno Lindenmanns zum Ende des vergangenen Jahres in der Münchner Galerie Wassermann, Edition E besichtigen.
Und wie bei allem Widersinn erlagen wir erneut dem Zeitbegriff, selbst unsere TschernobylBedrückung fiel ihr anheim; wir faßten nochmals aufs neue Hoffnung.

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 27

Vom Nichts ausgehend

Protokoll einer Begegnung mit dem Maler BERNARD SCHULTZE


»Über unsere Gräber beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht…«
Georg Trakl

Der Krieg war zu Ende. Alles war furchtbar. Ein wildes Getöse auch in dieser »Wunderstadt Frankfurt«, in die ich mich begeben hatte. Hier formierte sich der Materialismus und die Fäulnis des hektischen Wirtschaftswunders. Wovon wir, meine Feunde und ich, ausgeschlossen blieben.
Ich erinnere mich lebhaft an das erste Weihnachten nach dem Kriege. Die Zeil auf voller Breite mit Festtransparenten versehen. »Oh! Oh!«, dachte ich. Und plötzlich kam eine Sturmböe auf und riß alles herab. Der Flitter. . .,das stimmte ja auch alles nicht . . . Sollte sich auf diese gefällige Weise eine neue Gesellschaft konstituieren!? Ein ethischer Reinigungsprozeß fand ja nicht statt. Die Siegermächte erledigten das ... Der Nürnberger Prozeß . . dort saßen wir kollektiv Schuld ab. Zugleich fühlten wir jedoch den Zwiespalt: tapfere, gute deutsche Soldaten gewesen zu sein; ungeheure Leistungen vollbracht zu haben . . . und jetzt de jure Verbrecher sein zu sollen!
Vom Kriegsende bis '51 haben wir fast blindwütig aufgeholt. Mit Götz, Franck, Kreutz und Greis gründete ich die Gruppe Quadriga. Unser Programm suchte in der Expression, in Verwendung des Zufalls seine Richtlinie.
In der Pariser Galerie von Nina Dausset sahen wir erstmals Werke von Pollock, Riopell, de Kooning und WOLS, aber auch von anderen. Gleichsam hier fiel der Groschen! Dies war der entscheidende Heureka Moment! Diese Künstler formulierten in einer Sprache, mit der wir noch unsicher experimentierten.
Von WOLS hatten wir schon fast grashalmhafte Zeichnungen in Mappen gesehen. Jedoch von seiner Person, seinem Leben wußten wir nichts. Ein Freund von Henri Michaux, Camille Bryen, selbst Maler und Literat, gab uns die Adresse von Gréty WOLS. WOLS war ja schon '51 verstorben. Also gut: wir suchten Gréty WOLS in einem kleinen, schäbigen Hotel auf. Ihre Lebensumstände waren kläglich, von denen uns Bryen berichtet: äußerste Armut!
Gréty trat uns wie eine rotblonde Hexe entgegen. Empfing uns aber sehr freundlich, indem sie uns fragte, in welchem Sternkreiszeichen wir geboren seien. Nachdem sie erfuhr, daß meine Frau in ihrem und ich im Sternkreiszeichen von WOLS geboren war, durften wir in das spärlich möblierte Zimmer eintreten.
Ihren Lebensunterhalt bestritt Gréty auch noch nach dem Tode von WOLS mit der Anfertigung von Hüten.
Fast überstürzt zeigte sie uns die Arbeiten von WOLS.
Abgesehen von den Papierarbeiten malte WOLS in seiner letzten Lebensphase auf ganz billiger Leinwand, die ihm der Galerist Rend Drouin besorgt hatte, nicht ahnend, daß er damit eine epochale Veränderung der Malerei mit bewirkte. Mit wenigen Farben er hätte ja lieber dick gemalt, aber dazu hatte er gar kein Geld schuf er diese einzigartigen Gemälde . . ähnlich erging es ihm auch mit seinen Tuschfarben, nur wenige Farbnäpfe. »Das ist das Genie! Aus nichts macht der was, alles ist in ihm!«, durchfuhr es mich.
Dann gab es noch eine makabre Szene: Grety holte ein Kästchen, in ihm lag auf rotem Samt die Gipshand von WOLS (keine Gesichtsmaske, denn die Hand war das Medium zur Fläche), die sie uns aufforderte zu küssen! Ein ungeheures Erlebnis. Auch wie sie über WOLS Bilder sprach! Eines der ausgefallensten Gemälde war auf den Tod seiner Tochter zurückzuführen, die überfahren wurde, wie Gréty äußerte. Die er, mit einer anderen Frau hatte. Zu ihrer Schmach wäre sie jahrelang nur die Putzfrau von ihm gewesen, während besagte Frau mit ihm das Bett teilte. Nach einem Moment fügte sie hinzu, sie habe ihn mit schon verdorbenem Pferdefleisch, das sie ihm aufbriet, vergiftet. (Freunde von WOLS berichteten, daß er an übermäßigerm Alkoholgenuß 37jährig verstarb!) Unvermittelt entpuppte sich Gréty als heller Dämon, scharf, bitter und agressiv, vor dem man Angst bekam. Im Grunde war jedoch Gréty es, die WOLS seine schöpferische Entfaltung ermöglichte: sie machte ihre Hüte, gab ihm ein Gleichmaß und die Sous für den Alkohol ...
Schließlich griff sie nach einem abgenutzten Band von Novalis Heinrich von Ofterdingen , an dessen Seitenrändern WOLS Anmerkungen gemacht hatte , welch eine Welt! Ja, das war WOLS ...
Durch den New Yorker Maler Alcoply (Alfred Lewin Copley, 1910 in Dresden geboren), der zugleich auch ein berühmter Blutforscher war, wurden wir mit dem Antipoden von Wols vertraut gemacht: Pollock, ein rabiater, gewaltätiger wie auch sensibler Mann, der zuweilen im Suff seine Malerfreunde Matherwell, Kline u. a. verprügelte. Ein Typ' von einer Faulknerhaften Vitalität, der mitunter in seinem alten Ford in rasender Geschwindigkeit über die Ackerfelder fuhr und dabei den vorbeiflirrenden Wolken huldigte.
In Gegenwart von Alcoply äußerte Pollock einmal , er stand inmitten einer Leinwand, die er mit seiner Driplingmethode zu einem vielschichtigen Lineament überzogen hatte : »Ich will jetzt Bekanntschaft schließen mit dem, was ich gemacht habe!«
Für mich eine unglaubliche Formulierung! Genau den Prozeß bestimmt ... ! André Bretons Begriff der »écriture automatique« steht dem nicht nach. Hier fand auch ich meinen Ansatz, den ich auch in den Arbeiten von WOLS verwirklicht sah. Allerdings trat bei ihm noch der »mythologische Hintergrund«, wenn ich so sagen kann, greifbar hervor.
Unseren Lebensunterhalt bestritten wir durch Vorträge meiner Frau Ursula die gleichnamige Künstlerin , die sie im Frankfurter Amerika Haus hielt, wobei es ihr möglich war, auch andere Referenten zu benennen, z. B. Will Grohmann, dem keine NSVergangenheit anhaftete, der dann über die neuesten Tendenzen der europäischen Kunst einen Vortrag halten konnte.
Danach lud ihn meine Frau zu uns nach Hause ein. Bei dieser Gelegenheit besah Grohmann meine Arbeiten, die noch Vorinformel waren, noch Anklänge an's Bauhaus, an Gilles oder Baumeister aufwiesen.
Behutsam fischte Grohmann ein Blatt heraus und fügte kommentierend hinzu: »Hier, das wäre zum Beispiel ein Weg! Sie müssen als Künstler ihre Platznumero finden, wenn sie die nicht finden, haben sie verspielt!«
»War ja hart was er da sagte! aber zutreffend!
Später wurden wir enge Freunde. Mit Götz war Grohmann vordem schon in Dresden befreundet, wo er aus allen Ämtern vertrieben lebte. Er brachte sich ähnlich wie wir durch. War aber imstande , anderen, z. B. uns jungen Künstlern, Ermunterung zuzusprechen.
Die übrigen Kritiker, soweit sie überhaupt bereit waren, unsere Arbeiten in Augenschein zu nehmen, verhielten sich ratlos oder abweisend. Selbst unsere nächsten Freunde hielten uns für verrückt, wenn sie gelegentlich unsere Bilder sahen. Eine typische Kritik aus diesem Kreis fiel folgendermaßen aus: »Das sieht ja aus wie tausendmal abgenutzte Stufen zu den UBahnhöfen!«
Ja ja, wir waren sehr alleine! Damals gab es keine Medien wie heutzutage. Wenn man bedenkt, in welchem Tempo die »jungen Wilden« durch die Medien gemacht wurden, andere Trends mehr, die uns die Gegenwart ständig beschert! Dagegen waren wir Utopisten!
Bei Willi Jaeckel studierte ich also an der Hochschule für Kunsterziehung in Berlin. Durch übermäßige Teilnahme an Sportveranstaltungen umschiffte ich das kaum zu umgehende »Werben« der Parteikader der NSDAP. Wer der Partei nicht
angehörte war sofort verdächtig! Gut, ich mußte an der Hochschule den üblichen Ouatsch machen, gib dem Kaiser was er verlangt, zeichnen und malen ... Für einen dissident veranlagten Menschen fand dies alles in einer höchst gefährlichen Situation statt. Wovon ich unbeirrt für mich ganz andere Dinge machte.
Von Haus aus sollte ich Jurist wie mein Vater werden. Doch durch geschicktes Manipulieren ließ er mich dann doch an die Kunsthochschule und einen kurzen »Ausflug« in die Germanistik zu Prof. Bertram nach Köln machen, was er allerdings nur widerstrebend billigte.
Meine Malversuche waren durch die Bekanntschaft mit Erich Heckel, durch die Bilder von Kirchner und Kokoschka geprägt. Natürlich wagte ich diese andere Hochschule nicht zu zeigen! Darauf machte ich dann Examen, worauf ich gleich zur 18. Panzerdivision eingezogen wurde, der ersten Angriffsdivision auf Rußland.
Beim Frontanmarsch stießen wir mitunter in den polnischen Städten und Dörfern auf Kolonnen von jüdischen Menschen, die von SS-Männern flankiert, schippten. Mißhandlungen oder Erschießungen sah ich dabei keine. An der Front trat dann 'mal ein Landser auf mich zu , sternklare Nacht, ich las Trakl und meinte: »Die machen Seife aus denen ... !«
»Hui ... ! Hui . . .! Ganz furchtbar ...
Schlimme Sache. . »!
Wir waren Soldaten, mußten kämpfen, sonst wären wir selbst erschossen worden! Was in unserer Heimat geschah, erfuhren wir nicht. Vielleicht waren die davon Informierten unter Todesandrohung verschwiegen!?
Unser Trupp lag inzwischen vor Smolenzk, und doch waren wir gegen diese in ihren erdfarbenen Uniformen steckenden tatarischen Soldaten, die sich ungeheuer, tapfer wehrten, schier arme Würstchen!
In unserer Mannschaft herrschte sowieso eine fatale Stimmung, das Infernal ahnend: die Nibelungen in der brennenden Halle! Es war uns frühzeitig klar, das geht zu Ende! Das ist alles verloren! Dabei wurde gekämpft gegen eine Hoffnungs-und Sinnlosigkeit. Aber man mußte leben!
Vor Smolensk, nahe einer Talsenke, erinnerte ich mich lebhaft der Situation, wie die Oberprima des Prinz Heinrich Gymnasiums in Berlin, dem ich auch angehörte, mit dem Deutschlandlied auf den Lippen, dem Vaterland, Hölderlin im Tornister, im Ersten Weltkrieg geschlossen in der Langemark gefallen war.
Dagegen war der Eintritt meines Trupps in den Zweiten Weltkrieg geradezu nüchtern. Uns kam das alles wahnsinnig vor. Und doch waren wir zugleich gespalten! Eine unglaubliche Neugierde saß in uns. »Mensch, das ist das unglaublichste, gewaltigste Abenteuer, das wir erleben!« Wir hatten ja keine Kenntnis von den politischen, ökonomischen Beweggründen: Rußland, Persien, Öl . . ., das war doch alles sehr geschickt der Öffentlichkeit vorenthalten! Und das ganze Unternehmen hieß Barbarossa! In unserer Naivität dachten wir, na ja, der Adolf, 'n doller Kerl! Erst schafft er mit den Russen einen Nichtangriffspakt, nun fällt er ihnen durch die Hintertüre ein!
Durch eine Rauchvergiftung bekam ich TB, so daß ich bald aus dem Schlamassel ,raus mußte. Mein Glück! Die Russen rückten immer näher, wir gerieten mehr und mehr in die Defensive, woran auch unser Kampfesmut nichts änderte.
Plötzlich zog ein neues Kapitel in der Geschichte auf. Ich kam ins Lazarett Burg bei Magdeburg. Mein Bruder war in Moskau gefallen! Ein Oberstabsarzt stellte mir Papiere aus. ...Ich ergriff die Flucht! Meine Eltern hatten an der Ostsee noch zwei Villen, in Berlin war ja nischt mehr, dorthin nahm ich Zuflucht. Tage später brannte Penemünde lichterloh! Kurz bevor die Insel Usedom von den Russen eingenommen wurde, türmten wir noch eilends.
Als Flüchtling kam ich nun nach Flensburg. Ein neues, verändertes Leben begann. Zufällig lernte ich Emil Nolde bei meinem Arzt kennen. Ich malte auf Verdunkelungspapier, das mir jetzt geradezu entgegenkam: das Dunkle geht ins Licht, das Licht ins Dunkle. Das Übergangshafte, die Veränderung der Natur zum bildnerisehen Vorgang machen: das Amorphe als Lösung miteinbeziehen! Und dabei möglichst viele »Unfälle« haben, damit das Resultat entsteht!
Zusehends entwickelten sich nun mit den Jahren hügelhafte Unebenheiten in meinen Arbeiten, mit Draht oder gebuckelter Leinwand bewirkt.
Anläßlich einer Ausstellung 1956 in Paris bei Facchetti, erregte ich mit diesen Arbeiten die Mißgunst eines Mannes wie Hans Hartung. Auch Herta Wäscher, eine der großen Kritikerinnen in Paris der damaligen Zeit, sagte: »Was soll das!? Warum diese Einklebungen ... das wäre doch nicht nötig, es ließe sich doch auf der Fläche malen!«
Ich konnte ihr nur erwidern: »Mir macht es Freude Hindernisse zu schaffen!«
Mit den Jahren dehnte ich diese »Technik« immer weiter aus, so daß immer mehr Bilder in den Raum »traten«, bis hin zu den Migofs, die im Ensemble zum Environment werden. Gleichsam vom Nichts ausgehend, das ist das Entscheidende, die Balance, den Grad des Scheiterns fühlend ...

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 28

Meine Malweise ist
mein Motiv…

Der Zürcher Maler WILHELM JAEGER


»Ein GRENZBEREICH ist ein Punkt, wo man »ankommt«, dahinter sieht man eine andere Sicht. Aber der Zutritt ist einem verwehrt, man kommt ihm nicht nah'…«
W. Jaeger

Hölzel und Itten hießen die Protagonisten, die Wilhelm Jaegers Weg prägten.
Natürlich ist die Flächigkeit in Wilhelm Jaegers Bildern kein ausschließliches Merkmal. Schraffuren, Bündelungen linearer Art, bis hin zur Symmetrie seines Strichs, dessen Auswirkung die Bildfläche verläßt, belegen den Gestus steter Intention. Konstruktivität ist dafür nur eine Metapher. »Grenzbereich«, so der Titel eines umfänglichen Zykluss, der seit 1977 währt, bezeichnet eine Ahnung, eine Form.
Der Betrachter fühlt die übereinander gefügten Schichtungen auf der Leinwand, plan und doch mit einem Hang zum Relief! Zweifelsohne standen dieser Methode ausgiebige Studien alter Meister in Italien Pate, deren Werkimmanenz sich innerhalb eines fast zehnjährigen Aufenthaltes erschloß.
Doch: Verschiedene Epochen bestimmen naturgemäß keine Analogie! Deshalb wäre es abwegig, Wilhelm Jaegers Malerei in Nachbarschaft einer anderen, als seiner Epoche zu sehen.
Dem Werk des mit vielen eidgenössischen Preisen gewürdigten Malers Wilhelm Jaeger konnte der Beschauer erstmals 1981 in der BRD im Kunstforum der Städtischen Galerie im Lenbachhaus begegnen. »Megaron« nannte sich diese Ausstellung, in der die Dreidimensionalität der überspringende Punkt der Bildwelt war. Wie jede andere Titelgebung war auch diese nur ein Konstrukt, das ein »räumliches Ambiente« verkörperte. Schon gar keine Anlehnung an die Antike war mit dem Begriff »Megaron« gemeint, sondern die Benennung eines »profanen Sakralraumes«. Schließlich belegten diese Bilder, die zum Environment gefügt, von der Bildfläche zur Fläche der Wand, zur Bodenfläche, zur Fläche schlechthin traten, Öffnungen, Verschränkungen, die Allfälligkeit des Raumes zum Bild, Raum im Raum im Raum ...
Die Position des Beschauers blieb dabei die des Mittelbaren. Undurchdringlich bis luminiszierend die Farbgebung: grauschwarz, blaurot bezeugten gestische wie konstruktive Übergänge. Aus und Einblicke, horizontale bis vertikale Dinglichkeitsbenennungen akzentuierten die Illusion an eine Malerei im landläufigen Sinne. Artikulierte sich hier nicht eine neue künstlerische Sprache: Gestus und Konstruktivität!?
Bruchlos setzte sich dieses stupende malerische Vokabular in den großen Werkschauen fort, die 1986 im Aargauer Kunsthaus begannen, zur Kunsthalle in Mannheim, zum Museum in Gelsenkirchen, zum Museum in Bochum führten und 1987 im Thuner Kunstmuseum vorerst endeten. Allerdings: Im Unterschied zur »Architektur« im Kunstforum der Städt. Galerie, blieben die »Räume« diesesmal imaginär! Der »Grenzbereich« breitete seine Opulenz in den großen Formaten aus. Der Beschauer begegnete unversehens »Neros Haus«, das ihn im vielfältigen Kanon, in lichten und allen facettenreichen Farben umspann, Teil der Reminiszenz, des Mythos, dem die Säulen schwerelos im Zwiegespräch huldigten.
Wilhelm Jaeger erwähnte einmal beiläufig: »Die Erinnerung braucht immer einen Auslöser!« Wohl dem: Trügt nicht der erste Anschein von Spontanität in Jaegers Bildern? So gestisch und hingeflitzt sie scheinen mögen, bestimmen sie doch ein »Davorliegendes«. Hierfür stehen Erinnerungswerte unterschiedlicher Art, die ihren »Inhalt« erst allmählich auf der Fläche der Leinwand ausbreiten. Man denke an Mallarmes »Coup de Deu!«, ohne hierbei einem vorschnellen Symbolismus verfallen zu wollen. Die Ziffern überlagern, kreisen um den Moment der Sinnwerdung.
Die Topik wird sichtbar; ihre vermeintliche physikalische Gesetzmäßigkeit wird ihr Widerschein.
Der Beschauer wird in das Bildgeflecht eindringen, verweilen, dem Lodern der Farben sich ausliefern. Allmählich wird er die Chiffren bloßlegen, Teil für Teil aufnehmen, sie ihres individuellen Wertes befragen, ihrer Zeit, ihrer Intention. Wird ihm je die Antwort zu Gebote stehen, wird er vermeiden, sie um ihrer Wahrung willen zu beantworten.
Wie eine pythagoräische Unendlichkeitsschlaufe treten zu den »GRENZBEREICHEN« die »ORTSBESTIMMUNGENEN sowie die KONSTRUKTIVEN ELEMENTE«: Bild für Bild komplettiert von der Imago Wilhelm Jaegers; ihre Zeichen stehen für Welt, in der ewigen Wiederkunft des Gleichen.
Die stereometrische Form der »GRENZBEREICHE« tritt zugunsten des Topographischen der »ORTSBESTIMMUNGEN« zurück. Die Vogelflugperspektive geriert die Marginalie der Handschrift des Künstlers.
»Tempo! Tempo!« könnte es dröhnend aus der Szenerie der Bildschraffuren dringen. Ein hektischer Transfer der Struktur in Signalfarben stimmt die Sirenen. Nichts ist, was bleibt! Veränderung scheint das Motto (man berücksichtige die Geschwindigkeit!) dieser Bilder. Sie kommen nah' heran und bleiben fern, wiewohl sie einsehbar sind, mitunter vertraut. Und diese Ambivalenz scheint mir ihr Vorhandensein zu bestimmen. Sind nicht Wilhelm Jaegers »ORTSBESTIMMUNGEN« der ganz subjektive Sinn von Welt/Sicht!?
Bevor wir das Thema beenden, noch einen Blick auf die »KONSTRUKTIVEN ELEMENTE«, die das bisher zum Werk Wilhelm Jaegers Gesagte abschließend verdeutlichen:
Die »KONSTRUKTIVEN ELEMENTE« sind sich selbst. Kubus und Raum werden hier wesenhaft. Dergestalt wird die Metaphorik zu einem physikalischen Phänomen. Gedehnte, gebrochene, bewegte Axialität. Gleichsam purgatorische Atmosphäre ausstrahlend, Verlassenheit. Letzter Grund des Seins ... Nurmehr Ding: Achse, Säule, Tangente widerscheinend, Schraffur, nichts als Hermetik! Und dennoch: Die Farbgebung grün, rot, gelb, schwarz, violett, spiegelt sie nicht eine lichte Peinture!?

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 29

»Jetzt habe ich
einen Paradiesvogel
angefangen zu malen«

Aufzeichnung eines Gesprächs mit URSULA SCHULTZE-BLUHM


»Theorien konnten nie das Element der Intuition ersetzen, weil das Wissen als solches unfruchtbar ist…«
W. Kandinsky

Eigentlich wollte ich schreiben. Schon als Kind bekritzelte ich meinem Vater jeden Bogen Papier. Später schrieb und schrieb ich; und dann sagte mir einmal ein Freund meines Mannes: »Weißt Du, nach Baudelaire.... Deine Texte sind alle nichts ... !« Das setzte mich so in Wut, daß ich die Schere nahm und alles zerschnitt, bis auf wenige Seiten.
Immer wenn ich Zeit hatte..., ich weiß nicht, wem ich die Geschichten zeigte, der sagte: »Aber das sollst Du weitermachen!«
Nun, wenn ich am Strand liege, anstatt in die Gegend zu starren, notiere ich etwas:
»Es war der 22. Mai, es fiel kein Regen!
Aber alles war grau. Auch die Fische aus dem Wasser sahen grau aus. Da nahm ich einen und fraß ihn auf. Er zitterte in meinem Bauch. Und ich auch! Die Schuppen glitzerten silbern. Auch modische Schuhe mit Schnallen hatte er an. Noch immer voller Lehm spuckte er in mir. .. ich wollte eine Leiter kaufen, damit er aussteigen konnte.«
Oder eine andere Geschichte:
»Als König Salomon die Zinnen von Jerusalem erblickte, erstarrten seine Augen. Seine Hände wuchsen aus den Nägeln und hingen steif herab. Es nahte ihm eine Gestalt, die Königin von Saba. Sie glitt gleißend in einem schmuckhautähnlichen Gewand heran und neigte nicht ihr Haupt. Die Königin sah ihn leuchtenden Blickes an, da wuchsen ihm goldschimmernde Federbüschel aus dem Kopf, gleich jenen, die sie im Haar und am Halse trug. Er wartete, daß seine Federn und die ihren zu singen begännen und lauschte erhobenen Hauptes, um alle Töne zu vernehmen. Stille setzte ein. Es loderte der Haß, Jerusalem wurde düster und alles verriegelte sich. «
Anfang '51 fuhr ich nach Paris und besuchte die Galerien Drouin, Facchetti, Dausset. Die Reise war mir durch meine Arbeit in den amerikanischen Kulturinstituten möglich. Normalsterbliche durften damals die Grenze noch nicht überschreiten.
Übrigens war dies auch der Zeitraum meiner ersten Bilder, die durch die Eindrücke dieser Reise wohl ausgelöst wurden.
Alles um mich herum malte tachistisch, was mir persönlich als Ausdruck nicht lag, so daß ich meinen eigenen Stil entwickelte. Ich spitzte die abgelegten Pinsel meines Mannes* an und malte damit, um Geld zu sparen. Und wieder fielen bisweilen unliebsame Kommentare, und auch meine Bilder vernichtete ich.
Gerade neulich, wir räumten, fand ich zufällig eine dieser frühen Arbeiten, die tadellos war. Daran sah ich nun, daß ich genau einen Kreis in meiner Entwicklung gemacht habe. Anfänglich war die Struktur noch roh, grotesk, einfältiger im Malerischen. Nach einer Zwischenphase bin ich nun wieder dort angelangt, subtiler zwar, aber wieder an dem anfänglichen Ausdruck orientiert.
Indes ging alles sehr schnell. Bernard, mein Mann, hatte '55 seine Ausstellung bei Facchetti und dabei lernten wir den amerikanischen Maler Paul Jenkins kennen. Paul war ein wirklicher Freund! Paul sagte: »Du mußt unbedingt Dubuffet kennenlernen!« Zu meiner Freude interessierte er sich sehr für meine Bilder, und erwarb auch sofort zwei für sein Musée de l'Art brut. Als Daniel Cordier '59 seine später sehr berühmte Galerie in Paris eröffnete, schlossen Bernard und ich mich seiner Vertretung an. Wie sagte Daniel Cordier noch zu mir: »Wenn Du hundert Arbeiten hast, stelle ich Dich aus!«
»Oh', das schaffe ich nie, hundert Arbeiten!«
Nachdem ich zwanzig fertig hatte, ging ich zu ihm: »Voilä Daniel ... ! Mes choses ... !« Er besah die Bilder zustimmend, und wir vereinbarten den Termin für meine Ausstellung, die überragenden Erfolg hatte. Und dann habe ich gemalt und gemalt, und es wurde immer mehr.
Nach dem Tode von Bernards Vater, '68, wechselten wir sofort nach Köln über. Im Grunde sind wir weder Hessen noch Rheinländer, sondern Berliner! Die Jahre in Frankfurt waren schrecklich; ich hasse Frankfurt heute noch, obgleich es sich positiv verändert hat! Das Nachkriegsklima in Frankfurt entsprach einer Gründergesellschaft; die guten Sitten lagen darnieder und die Ellenbogen beherrschten das weite Feld.
Durch die sich häufenden Pariser Ausstellungen, die wir hatten, stellten sich allmählich interessierte Sammler ein, selbst Alice Rothschild kaufte jeweils mehrere Arbeiten von Bernard und mir.
Doch plötzlich, wenn man dann bekannt ist, schauen die Leute kaum mehr hin was auf den Bildern ist, und kaufen blind.
Ich habe immer eine feste Vorstellung von dem was ich will. Und bei ganz großen Objekten ziehe ich das Sujet vorher auf große Bögen auf, um es dann auf die Leinwand oder die Hartfaserplatte zu übertragen. Zumeist schweben mir Menschen, Tiermenschen, Monster und dergleichen vor. Aber mitunter greife ich auch Themen aus der Mythologie auf. Da meine Malstrukturen sehr fein sind, netzartig übereinanderliegen, bin ich dazu gekommen, etwas Fedriges oder Pelziges einzukleben.
Es ist schwer zu sagen, weshalb ich so und nicht anders male. Ich zerbreche mir nicht den Kopf, solange es mir Spaß macht; ich male nur was mir Freude bereitet. Jetzt habe ich gerade einen Paradiesvogel angefangen, ein ganz wunderbarer Vogel! Mein Mann meinte, er sähe aus wie ein aufgehängtes Biest!
»Nein, das wird ein Vogel!«
Ich glaube schon, daß ich sehr ichbezogen bin, da ich immer meinen Kopf male. Das ist Anlage. Ich wuchs alleine auf, hatte keine Geschwister, tobte in einem riesigen Garten herum und war mir selbst überlassen…

*Bernhard Schulze

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 32

Vom Geist der Utopie

HMR PRAETORIUS


Seit Zeiten mündet die 18er Tram in München in die gewundene Kurve des Glockenbachviertels. Bloß ein Steinwurf von der Kurve das ehemalige Domizil des AKTIONSTHEATERS, HMR PRAETORIUS erster Wirkungsstätte in Personalunion mit Vlado Kristl, J. M. Straub, H. Moore und dem später sehr erfolgreichen Fassbinder.
Zur Aufführung kam allabendlich ANTIGONE oder Peter Handkes PUBLIKUMSBESCHIMPFUNG, wozu HMR PRAETORIUS die Saiten seines Kontrabaßes unisono zupfte, dem zweiten ICH seiner Clowneske, unter dem Motto »VOM GEIST DER UTOPIE«. In den täglichen Schlagzeilen tauschten die Franzosen ihren vermeintlichen Freiheitsbegriff in Indochina mit den Amerikanern. Hierzulande, dem Herrgott sei's verziehen, verbargen die Engel noch immer ihre Seele unter Trümmerschutt. Hoffnung war eine Frage der Jahre.
Davon unbeirrt intonierte HMR PRAETORIUS im abendlichen Wiederholungsfalle den Akkord »VOM GEIST ... « zum theatralischen Finale. Mitunter der Resonanzkörper des Kontrabaßes keinen Laut verhieß, sei's durch den überlagernden Applaus oder den Bodensatz des zurückliegenden Zechgelages, übermannte HMR PRAETORIUS eine ähnliche Symbiose wie Kokoschka zu seiner Windsbraut oder Bellmer zu seiner Gliederpuppe: Der erotische Affekt kulminierte in der lasziven Imagination. Falls der Theaterbetrieb gänzlich verdroß, trampte HMR PRAETORIUS als Performancekünstler in Aktion mit dem Kontrabaß durch die Lande. Selbstredend unterbrach HMR PRAETORIUS den säuselnden Fahrtwind, der kehlige Laute am Hals des Instrumentes wachrief, das aus der Dachluke des gewogenen PKW Besitzers lugte.
Der Fortbestand des AKTIONSTHEATERS wurde jäh unterbrochen, als statt Theaterblut, Blut einer Theaterprotagonistin floß, der Skandal die künstlerische Aufbruchsstimmung in Mitleidenschaft zog. HMR PRAETORIUS fand jedoch schnell ein neues Wirkungsfeld bei dem Filmer VLADO KRISTL (auch Maler und Multitalent!), dem er fortan als Drehbuchautor, Komparse und Komponist, quasi die linke von der rechten Hand wurde.
Soweit die Filme nicht der öffentlichen Zensur unterlagen, denn skandalumwittert waren sie allemal, bekamen sie zur allgemeinen Verwunderung auf einschlägigen Festivals Preise, Belobigungen, wenn sie nicht gar auf empörte Ablehnung stießen.
Phantasievolle Harlekinaden waren schon immer HMR PRAETORIUS unverwechselbare Handschrift, denen er auch in Sperlonga, Italien, ausgelassen fröhnte. Und zu HMR PRAETORIUS allgemeiner Verwunderung, fand er in Louis Waldon, dem Hauptakteur in Andy Warhols Filmspektakeln, im Duett einen Gleichgesinnten: Man vergegenwärtige sich eine menschenleere Piazza, links und rechts ein Typ. Die Nachmittagssonne spendet nurmehr vereinzelt gleichmäßiges Licht, so daß die Typen jeweils ihre Schatten vorauswerfen, sich näher sind als sie es wirklich sind. Plötzlich: Der eine fängt zu singen und mit handlichen Bällen zu jonglieren an. Der andere bislang reglos verharrend, stimmt tonal ein und jongliert Bälle seiner Einbildung, mit denen er die Entfernung zum anderen Stück um Stück wettmacht. Scheinbar spielen sie wortlos vierhändig, dreihändig, zweihändig, einhändig: du/ich/ich/du ...
Was liegt näher, die Tage gemeinsam zu gestalten? Es ist Ende Mai in der Zeitrechnung eines unseligen Jahres. Ein Familienzirkus frequentiert den Ort. Große Aufregung allseits. Gemeinsam beschließen Praetorius und Waldon: »Nichts wie hin!« Nachdem zwei Trapezakte ohne größere Frakturen überstanden waren, wurde zum Match gegen den Sohn des Zirkusdirektors gebeten. Im Laufe der sechsten Runde sank HMR PRAETORIUS geräuschlos in die Knie. Die Flanke war wohl doch zu viel?!
Zwischen den Totempfählen am Strand, die Louis Waldon in lebhafter Assistenz von HMR PRAETORIUS errichtet hatte, tummeln sich die Touristen mit ihren braungebrannten Ärschen. Dessen ungeachtet baut HMR PRAETORIUS aus Glasziegeln einen Lichtsee. Schleppt Zementsäcke durch die Gassen des Ortes. Eine aufgelassene Olivenmühle macht er zu seinem Salon d'amour ...
Doch allmählich kommt die Ernüchterung. Die »Burlesken« ernähren auf Dauer nicht ihren Mann. Als nächstes Ziel wird deshalb »Die Kunst am Bau« in Sardinien kreiert. Aber auch dies ein Unterfangen.
Rückkehr nach München. Indessen. das Jahr des Herrn, 1975, die Handdruckerpresse, die Gedichte zum DREIVIERTELJAHRHUNDERT in konstruktiver Manier zutage fördern. Der Galerist Klaus Lea bringt dies Kleinod in einschlägigen Sammlungen von Bibliomanen unter.
Und erneut treibt es HMR PRAETORIUS zu einem anderen Ort: auf den Breitenstein als Almwirt und Viehhändler. Dreimal vom Frühjahr bis in den Herbst. Bei Gelegenheit stürzt HMR PRAETORIUS ein ihm anvertrautes Rindvieh in die Schlucht des Bergmassivs, jeder Rettungsversuch versagt. Dies der Augenblick: Fliegen, Drachen/Fliegen mit zwei Rindviechern im Schlepptau! Ohweia!

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 32

…Hinaus aus dem Hoffen…

Notizen zum Werk von SMAIL FERIZOVIC


»Die Anmut, sagt der Mythus, ist etwas Zufälliges an ihrem Subjekt,» daher können nur zufällige Bewegungen diese Eigenschaft haben.«
F. Schiller

Die Sphäre des Lineaments tritt unmittelbar an die Stelle des Lebens. Welcher Ton dem jeweiligen Sein zugesprochen, wird entscheidet die Bewegung der Hand. Diese führt mittels der Intuition die Maurerkelle, durch die alles Bildschaffen bei Smail Ferizovic zuwege kommt. Winzige Formate auf Papier tragen gewichtige pastose Formationen, fast in Trance aufgetragen, die lauthafte Bildstrukturen widerscheinen.
Die Versuchung liegt nahe, die Kunstgeschichte zu bemühen, was zweifelslos der einfachste Weg der Erkenntnis wäre. Doch verweilen wir nahe dem Prozeß: Farbe, Gleichmaß, Zeit, künstlerische Intuition : die Farbe gebricht der Worte, sie bleibt nonverbaler Bestand. Was nützt es auch, ein Gelb, ein erdfarbenes Braun, Symbole alltäglichen Verkehrs als Maßstab zu gebrauchen?
Dennoch wägen die Sinne wortlos die Bildkomposition, verflüchtigen sie, rufen sie erneut wach ... Hinzu begibt sich das Gleichmaß: Raum und Zeit fügt dem Palimpsest die Spuren beständiger Veränderung zu: Intuition nenne man es ...
Kommt nicht der Zufall durch seinen Grund zum Bildwerden? Und die Form als Anatomie der Farbe?
Phantasmagorierte großräumige Bildebenen reduzieren das Maß der Dinge auf ein Minimum, gewähren Ausblick in Unendlichkeit von Räumen. Mitunter löst das Staunen vor dem Resultat den Widerstreit. Handwerklichkeit markiert bei Smail Ferizovic keine ausschließliche Intention. Das Bildwerden ist Zuordnung der Materie. Das Material der Urgrund des Stofflichen.
Innere Bilder zu schauen kennzeichnet den Anfang von Smail Ferizovic. Der allmähliche Entzug der klassischen Malerei, trotz gelegentlicher Etüden darin, die den Bankrott weisen, setzt die eigenen Stilmittel frei. Disziplin wird dabei zur Prämisse.
Mit den Jahren vermischen reale, alltägliche Bilder im Mittleren und Vorderen Orient die inneren Bilder. Ferizovic verdingt sich zeitweilig auch als Flucht vor der schaubaren Welt bei der Petrochemie im Irak, in der Türkei als Briefträger, in der DDR und BRD, wo er indes seßhaft wird, als Leiharbeiter eines multinationalen Zeitpersonalunternehmens.
Auch die örtlichen Wechsel gereichen der Biographie seiner Bilder zum Nutzen: Farbschichtungen in Grau, Schwarz oder Ocker verschmelzen und atmen im Rhythmus von Membranen; im Kontrast erscheinen sie im lyrischen Rot, im Raum wachrufenden Weiß, gehen in Bündelung vermeintlicher Nähe ein und kündigen sogleich ihr Versprechen.
Der Raum bleibt dabei ein erahnter, ihn zu erfühlen oder je zu deuten bestimmt seine Illusion. In ihrer Entrücktheit bleiben diese Bilder unschuldsvoll, gemäß ihrer Welt. Zeigt doch ihre Influenz bloß Annäherung und Fluß, Schründe gezeichneter Erinnerung.
Hell und Dunkel unterscheidet nur die Ebenen der Abstoßung lebendiger oder toter Materie. In der Flächigkeit befinden sich diese Bilder in der Schwerkraft der Erde.
Seit Mitte der 80iger Jahre arbeitet der in Zenica, Jugoslawien, geborene Smail Ferizovic ununterbrochen in München. Zeitweilig diente eine ehemalige Seilerei als Atelier. Inzwischen ein Souterrain, in dem die Stunden zu Bruchteilen seiner Bilder werden.

PS: In der Absicht Robert Delaunays spreche man vom Selbstwert der Farbe in Smail Ferizovic's Bildern oder auch Apollinaire Begriff des ORPHISMUS steht dafür. Ganz unabhängig davon sind sie sie selbst, ohne Worte, still und einzig.

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 33

Von der Sicht
zur Figur der Welt

FRANZ KOCHSEDER


»Vielleicht kommt es daher, hat man gesagt, daß wir die Natur nach ihren Geheimnissen fragen, weil wir darauf verzichtet haben, ihr ihre Elemente zu entreißen.«
Francois Ponge

Jede Bildnerei ist anthropomorphe Zeichensetzung. Dies das Kontinuum in Franz Kochseders künstlerischem Schaffen.
Fluiduale Notate, deren Überlagerung Zeit, eine Zurücknahme der Alltäglichkeit gewährt. Belegt doch der allgemeine Topos dafür lediglich das Versagen des Verstandes in Anbetracht der Unvermeidlichkeit individuellen Strebens.
Kochseder legt gebündelte Schraffuren bloß, die durch den Raum schnellen, schlieren, unter und überlagern. Graphit, Kohle und zumeist ein sparsam eingesetztes Rostrot kennzeichnet die Motivik. Dynamische Preisgabe ist ihr Motto. Offenbarung ihr Augenschein. Soweit das Weiß des Bildgrundes partiell belassen bleibt, eine Durchdringung grauer bis weißer Linien fortbesteht, wird Verlockung zum äußeren Merkmal. Eine fast wortmächtige Darreichung des Augenblicks, deren Geschichte sie sind.
Am Anfang war die Figur, deren Umrißlinie zur Konturierung der Fläche trat. Und doch fand zusehens die Umkehrung statt: Die Gewichtung verlagerte sich von der Linie zur flächendeckenden filigranen Konturierung, Vernetzung. Blieb der weiße Grund augenscheinlich, führte er ein allfälliges Verhältnis zum Sujet, das in Korrelation bildhaft wurde.
Motivisch verlor die Figur im bildnerischen nun endgültig an Bestand, woraus als eigenständige Gattung die Büste erwuchs, zerklüftet und gezeichnet, aus purem Gips.
Auch vordem war die Versuchung der Dreidimensionalität im bildnerischen Schaffen Kochseders unverkennbar; mitunter komprimierte die Linie gar bildnisgleiche Eigenschaften, wie sie in den Tschernobyl Arbeiten aufgewiesen werden.
Nunmehr steht die Transfiguration selbstwertig als »Objekt« im Raum, nämlich als »Tore«, die einerseits den gestischen wie räumlichen Bezug suchen und andererseits den »Raum« begrenzen, ihm Durchgänge zufügen, ihn als Aufgabe definieren, und zugleich die Öffnung von innen nach außen verkörpern. In ihrer Materialität sind sie Infragestellungen der Monumentalität, Artefakte. Sie locken das Treiben und bleiben ungehört, ihre Durchgänge weisen nicht ins Numinose, sondern in aussichtslose Räume. Im Gegensatz zu Kochseders Bildwerken sind sie fragmentiert in ihrem Mysterium. Und doch haben sie ihren Sinn im »Hauch des Gedächtnisses« der Bilder, die wie Gräser vom Wind auf und niedergetrieben werden, gleich einer tonalen Resonanz, die flugs orchestriert, zum Finale drängt . . ., die die Desolation von der Sicht zur Welt ebnet, ihren Widerstreit ausbalanciert, die Existenz des Künstlers mit der Zeitgenossenschaft verbindet, sublimiert zur Erscheinung einer Unendlichkeit anderer Erscheinungen, die die Welt spiegelt. Es bleibt bei der Notiz, dem Augenblick, der Nähe zur Ferne, das Medium der Zeichnung ist hierfür Garant und Verschwiegenheit, die Kochseder seit Jahren thematisiert.
Standen vor Jahren noch »GEWALT/ ANGST/FLUCHT« oder »ZERSTÖRUNG EINER LANDSCHAFT« oder »GROSSE FREIHEIT« zum Thema, ist es nunmehr der »FLUGVERSUCH«, der das Unterfangen preist. Die bildnerischen Mittel entwickeln dafür ein Philosophikum, dem das Wissen der Begrenzung eignet.
Kochseder als Schöpfer und Scharfrichter zugleich: Der »FLUGVERSUCH« ist sein Sensorium zur Welt . . ., in dem auch die neuesten Arbeiten manifest werden. Verdichtung von Kopf und Körper . Anschein und Maß.
Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 33

Ordnung der Dinge

Der Maler HANNES STEINERT und seine Bildwelt


»Die Zeit der Werke ist nicht mehr einheitlich und ganzheitlich, sondern es geht um punktuelle Zeiten, um Augenblicke.«
Jean Francois Lyotard

Ohne davon irritiert zu sein, weiß sich HANNES STEINERT in der ersten Reihe des künstlerischen Aufbruchs seiner Generation. Mittlerweile selektiert er mit dieser Überzeugung brauchbare und nicht brauchbare Ausstellungsangebote, die täglich bei ihm eintreffen.
Unterhalb des Stuttgarter Hasenbergs hat er Atelier und Wohnung. Die Entfernung zur City vermittelt Abstand und die nötige Ruhe zur konzentrierten Arbeit. Der Blick aus dem Atelierfenster schweift über die Dächer ringsumher bis zum Stadtkern. Im Breitengrad zwischen den Wolken und dem Asphalt vollführt STEINERTS Hand Lineamentverschränkungen auf der Leinwand oder dem Bogen Papier. Psychogrammatische Kürzel, abrupte Auslöschungen einer Textur belassen Linien, die Verneinung hoffnungsvoller Absicht. Zutage tritt ein mehrteiliger Raum, dessen Binnenstruktur Masse per se und Druck, sprich Bewegung, in die Komposition bringt: Linie in Immanenz. In Nachbarschaft siedeln narrative Elemente als Komplementär: Notationen der Verschwiegenheit. Das ICH vor der Kapitulation der Möglichkeit; womöglich in Kenntnis der Aussichtslosigkeit jedweder Raumbestimmung? Zweifelsohne bleibt es bei der Führung der Nous, ob Linie, ob Geste oder Gedanke, der Moment wird ihn erhellen und ihn in seiner Unverbrüchlichkeit zurücklassen.
HANNES STEINERTS Linie hatte zuerst psychologische Bedeutung: Indes paart sich die Linie in der Versuchung mit der Fläche, gebraucht längst verschüttet geglaubte Ausdrucksweisen frühkindlicher Manier.
Erinnert sei an das Vorüberhuschen des Schattens als Metapher: zeitweilige Bündelung, Auflösung zur Geraden, um im lyrischen Momento Synchronität zu suchen: Umrißlinie und Form . . .
Das Bildgeviert ist die Basisfläche auf die STEINERT die Umrißlinien fügt, im Spannungsverhältnis zueinander oder als Träger einer Kontrastfarbe bestimmen sie die Tektonik. Vor Jahren schon verlor die Primärfarbe zu Gunsten der Komplementärfarbe an Bedeutung. Schließlich ergaben sich Zwischentöne, vielschichtiger und fluoreszierend, die polare Spannungsverhältnisse schufen.
Gleichsam die Gebärde als gestueller Auswurf hinterläßt Spuren, die die Fläche kennzeichnen, die sich nicht ohne den Moment ergäben.
STEINERT setzt Male, gibt Ausblick auf den Akt: Zwischenwelten. Diese divergieren in einem planen zu einem illusionistischen Gefüge, rhythmisieren und kontrastieren die autonomen Zeichensetzungen.
Zunehmend wird der Beschauer von STEINERTS Bildern gebannt, beginnt mit ihnen zu dialogisieren. Ähnlich erging es mir: Ich schaute die Bilder STEINERTS und schaute aus dem Atelierfenster, beides subjektive Welten, die ihres Wahrheitsgehaltes zu befragen abwegig wäre.
So nahm ich die Freude an ihrem Erleben im Unterschied zu dem Erleben, das ich mir selbst bereitete; und begab mich erneut in den Fluß der Zeit, dessenthalben das du zum ich steht… STEINERT fügte dem Bild des Künstlers noch Kinderzeichnungen hinzu, die die Linien in Verschränkung der Horizontalen zur Vertikalen aufwiesen und den Verweis der Linie zur Linie…

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 33

»Wir leben noch«

Ein Streiflicht mit PAVEL ZELECHOVSKY


Baalschem im Gedächtnis: Die Nähe des Wortes zur Geste, und die Gewißheit, Worte sind Kennzeichnung, Behelf der individuellen Krudität. Zeichnen doch Worte mehr denjenigen, der sie gebraucht, als das Ding, dessen Benennung damit beabsichtigt wird.

Eingedenk dessen vis à vis Pavel Zelechovsky.

Der gedanliiche Abstand war gering. Sinnierten wir doch unvermittelt Kafka als Sediment der Angst. Unser Dasein als Verfehlung des Augenblicks. Dessen ungeachtet auch der Absinth nicht die Ansichten verrückte. Denn jeder sprach mit seiner Zunge unverwechselbar: selbstredend.
Die Höhenflüge waren indes ausgetilgt. Uns bewegte mehr der Bodensatz. Zur Untermalung trommelten wir zaghaft auf der Thekenplatte. Der Tag hatte sowieso seine Zeit hinter sich gelassen. Kommen und Gehen war nicht die Wiederkehr, sondern die Durchlässigkeit des Raumes. Das rhythmische »take off« pries den Sound aus der Box, die Vermaledeiung der Hoffnungslosigkeit.
Pavel sprach von »später/später/später«, der Vorwegnahme der Zeit; war sie je?
Oder dem »COUNTDOWN«, der Transfiguration des Todes.
Oder von dem »DIESER TEILNEHMER IST NICHT MEHR ERREICHBAR!«, dem abrupten Verlust des scheinbaren Gegenüber.
Oder vom »SIE KONNTEN NICHT ZUSAMMENKOMMEN«, dem Verharrungsvermögen in der Aussichtslosigkeit.
Oder von »DER ZENSUR DER UNGESCHRIEBENEN WORTE«, dem das fortwährende Versagen unauslöschlich wurde.
Und doch »WIR LEBEN NOCH«. Gewiß!
'69 hatte die Verheißung des Westens den Grenzwechsel bewirkt. Der Prager Frühling war jäh durch die Panzer des Warschauer Paktes im Keim erstickt. Was hieß es da weiterhin verweilen?
Pavel folgte dem Fluß der Ereignisse.
»DANKE FÜR DIE EINLADUNG«, Vorübergehende Bleibe. Campingliege quer im Raum, dessen Oberfläche das Foto des verbrannten Bettes als Synonym des Verlustes an Heimat barg.
Das bisherige und das gegenwärtige Leben, Täuschung allemal; verkörperte nur die Nivellierung »des hier zum dort«. Die Erinnerung schuf nicht die Gegenwart und die Gegenwart nicht die Erinnerung.
Wir prosteten den letzten Schluck des Absinth: »Auf das Leben!«, und wußten, daß wir davon nicht ertränkt werden würden.
Das Säkulum figurierte allgegenwärtig. Unablässig nährte es die Wut auf seinen Zustand. Selbst das Raunen ringsumher legte beredtes Zeugnis davon ab. »Wir«, das war nur die Begebenheit des Moments, unzählig anderer Momente , Schein, in dem Pavel Zelechovsky, der Künstler, der Performer usf. sein Ebenbild Subjekt/Objekt beständig wechselte, das Angesicht, das die Anwesenheit der Abwesenheit war.
Die Ironie des Schicksals war verlustig. Hier gab es keine Gratwanderung. »HORA RUIT«" maß die Zeit in seinem Angesicht. Das Staunen vor der Ausweglosigkeit: Zeit + Sein + Zeit + Sein
Zur Stunde der Trennung wogen wir nochmals unsere Worte, waren sie einerlei?
Sprachen wir doch in bester Absicht gegen den Moloch der Zeit, der wegführte, die Konklusion ebnete.
Über die zukünftige Zeit verabredeten wir uns.
Wie sehr waren wir je wir?
P.S.: zur lkonografie
»SPÄTER«, 1987
Situation
Künstierwerkstatt Lothringer Straße, München SPÄTER geschrieben an der Wand.
SPATER unzählige Male im aufgeschlagenen Buch, das auf einem Ambo liegt. SPÄTER/ SPÄTER/SPÄTER ...
Worauf warten wir noch.

»COUNT DOWN«, 1981
Projekt für das Universitätsklinikum Großhadem
12tellige FotokopieSerie
Beleuchtete Fenster bilden digitale Schrift.

COUNT DOWN, 1001. Mit der Geburt beginnt hinter den Fenstern das Sterben.
Wissen über die Endlichkeit.

»STIMME DES GEWISSENS«; 1983
Objekt
Telefonbücher mit durchgestrichenen Namen. Telefonapparat angeschlossen an Kassettenrecorder mit Endlosschleife:
Dieser Teilnehmer ist nicht mehr erreichbar.

»SIE KONNTEN NICHT ZUSAMMENKOMMEN«, 1986 Performance Galerie der Künstler, München Auch durch ein Eierfeld kann der Weg führen, den ein Künstler wählt, um die Distanz zwischen ihm und dem Publikum zu überwinden.

»ZENSUR DER UNGESCHRIEBENEN
WORTE«, 1983
25 Aktenordner gefüllt mit Blättern auf denen die ungeschriebenen Wörter durchgestrichen sind.

»WIR LEBEN NOCH«, 1989
Situation
Auswahl für den Förderpreis der Stadt München
Künstlerwerkstatt Lothringer Straße, München

»DANKE FÜR DIE EINLADUNG«, 1986
Situation
Internationale Kunst aus Münchner Ateliers
Künstlerwerkstatt Lothringer Straße, München

»HORA RUIT - Situation
Galerie der Künstler, München, 1987
Kulturzentrum am Gasteig, München, 1989

WIE LANGE NOCH steht an der Wand geschrieben.
Stuhlreihen für die Zuschauer stehen bereit.
Ein Selbstportrait montiert auf ein Ziffernblatt. Die Zeiger bewegen sich auf dem Gesicht.
Die Zeit läuft.

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 37

Reisen mit der Seele

ROLF HEGETUSCH


Je n'avais qu'un bien:
la liberte de l'esprit.
C'est celui que la "vie"
essaye toujours de nous ravir.

Paul Valery

Nicht weit von der Vorstellung des Ozeans, ferner Kontinente, und dabei vor dem Starnberger See das gegenüberliegende Ufer ignorierend, nahm Rolf Hegetusch einen wesentlichen Moment seines Universums wahr.
Dies eingedenk der Leerstellen, die später das Fremde mit der Gewissheit des Selbst suchen, suchen auf anderen Kontinenten oder wechselweise auf der Fläche des Bildes als Male der Unendlichkeit, deren gezeichnetes Lineament, Schraffur und Kürzel, Wegmarken zu sich hin- und weg hinterlassen.
Zum verabredeten Zeitpunkt stieg ich zu Hegetusch in den Wagen. Schallendes Gelächter über eine Marotte des täglichen Lebens überbrückte die Verlegenheit des Augenblicks. Spätnachmittag: Hegetusch steuerte den Wagen Slalom durch das Chaos. Auf der Straße einer jener Nachmittage, die das unmittelbare Gefühl der Verlassenheit gebiert.

Die Schwelle des Ateliers zu überschreiten, elektrisierte den zu gebräuchlichen Zwecken eingeübten Verstand. Hier war eine Bildnerei wahrzunehmen, die Wols'sche Qualität wachrief. Planimetrie eilte der Binnenstruktur der Bilder voraus. Lineare, mit dem Stichel vorgenommene Aufritzungen der Fläche schufen eine autonome Szenerie, die an verstohlene Mitteilungen gemahnten. Fragen bestimmten, die unausgesprochen blieben. Und dabei evozierte ein Rostrot Archipele; ein Grauschwarz betonte die Struktur; ein matter Gelbton wies in den unendlichen Raum, der von einem Zipfel Ultramarin partiell flankiert wurde, dem ein flackerndes Zinnober vom Morgentau kündete. Rechts, seitwärts des Raumes, die Konfiguration der Einbildung, nämlich eine Drahtskulptur, deren Axialität ein dünngliedriges Armierungseisen mittels Schrottblechteilen collagierte. Schauend maß ich die Vertikale zur Horizontalen der Bilder. Zweifelsohne, hier blieb nichts unberührt, und das Register der Bilder fügte Zufall zu Einfall.

Partikel der Biographie Hegetuschs verdeutlichen unvermutet die Erwähnungsweise der Bilder. Vor ca. 40 Jahren in Bayern geboren. Maler seit dem 12. Lebensjahr, von den Umständen behindert. Ausflucht zu inneren Reisen als Evokation zu den Bildern. Später reale Reisen über den Ozean, der die Unfehlbarkeit der Schöpfung barg. Längere Aufenthalte in der Südsee, in Neuseeland als Selfmademan des Alltags und Architekt. ( ... sind nicht mitunter die Wege länger als der Gedanke zum Ziel?)

Die frühen Bilder Hegetuschs konjugierte eine symbolistische, mit surrealem Element durchsetzte Neigung; ihre Symmetrie bestimmte das Streben. Indessen ist die Fläche dominanter, die durchbrochen wird durch Resultanten, Räume, die Zeitebenen schaffen. Prismen in Verbindung mit komprimierten Formteilen kommen zur Verhältnismäßigkeit, personifizieren den bloßen Moment; gemahnen an die unberührten Reservate, deren unendlicher Grund sie sind. Karton, Leinwand, Draht, Blech und Fundstücke beliebiger Herkunft erfahren Wandlung, konfigurieren das Erstaunen des Schöpfers, dessen Fingerzeig sie bleiben.

In der Begegnung durchmaß Hegetusch das Terrain der Individualität. Sprach mit Abstand über die Nähe zum Bild, den Blick aus dem Fenster in die Peripherie gerichtet. Vergangenheit und Gegenwart waren unversehens ein unfehlbares Los. Es forderte von der Neigung zur Handlung zur Form zu kommen…

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 44

Francisco Farreras
Reliefs


Das Wichtigste ist, dass man immer neue Dinge suchen muss.
F. Farreras

Farreras Bilder sind Sinnbilder des Unbewussten wie der Versuchung zum Gegenstand. Ihr Erscheinungsbild bestimmen polare Spannungen wie kompositorische Brüche. Dem Betrachter stellen sich unvermittelt Analogien des persönlichen Fundus ein, deren Bedeutung den Erinnerungswert mit dem Moment des Erlebens in Einklang bringt. Formal tritt in diesen Reliefs ein gestimmter Manierismus zutage. Im Gegensatz zu seinem Landsmann und Altersgefährten Tapies, vermeidet Farreras die Offenkundigkeit des Fragments, obgleich der Widerschein der Reliefs den Anschein davon betont. Kenntlich wird dadurch das Streben, Vollkommenheit des künstlerischen Diskurses zum Ausdruck zu bringen. Dies spiegelt zugleich auch die Ohnmacht, die die Form kennzeichnet. Unzweideutig ist, dass Farreras eine ausgeprägte Neigung für afrikanische wie ozeanische Kunst hat, die die Moderne nachhaltig prägte, sie mit Stilmitteln konfrontierte, die die Schwere der europäischen Tradition als Verpflichtung in Frage stellte. Gerade das Kultische in Verbindung mit Zufallsspuren in den Reliefs verweist auf eine Abstraktion der „couleur noir“. Diese erzielt er dadurch, dass er sich einer Farbskala bedient, die natürliche Holztöne berücksichtigt - aber auch Braun, Ocker oder Dunkelrot zur Verwendung kommen lässt. Die reale Bedeutung der Reliefs könnte die der zeitgenössischen Votivtafel sein, die eine tiefe Religiosität des Künstlers wachruft. Hierin trifft Farreras wieder mit Tapies zusammen, dessen Ausbeute der Weltreligionen (siehe seine Essays) ihn allerdings unbefangener damit hantieren lassen. Farreras ist ein Klassiker der Moderne, ein Grande, und als solcher befindet er sich in den renommiertesten öffentlichen Sammlungen dieser Welt.

GERHARD GÖTZE
NIKE NEW ART IN EUROPE No. 21

Der Lebensweg eines deutschen ‘Peintre Maudit’

»Nichts ist erklärbar, nur Scheinbares kennen wir.«
WOLS


Mit bürgerlichem Namen hieß er OTTO ALFRED WOLFGANG SCHULZE, Sohn eines preussischen Verwaltungsjuristen (Geheimrates) in Berlin und später in Dresden.
Seiner Abkunft gemäss, standen ihm alle Türen der gesellschaftlichen Stufenleiter offen. Er schlug sie wortlos aus. Brach mit siebzehn das Gymnasium ab. Anschliessende Versuche in einer Autoschlosserlehre, einem kurzweiligen Lehrverhältnis bei der Fotografin Genga Jonas oder als Hospitant am Völkerkundlichen Institut von Leo Frobenius führten lediglich zum baldigen Ende. Auch das Angebot von Fritz Busch, erster Geiger in seinem Orchester zu werden, schien ihm wenig reizvoll.
Die Welt kehrte sich ihm frühzeitig zu seinem Mikrokosmos um.
Gerade neunzehn, das elterliche Erbe in der Jackentasche, überschritt er die Grenze nach Frankreich - ein kurz zuvor noch an der letzten Station des Bauhauses in Berlin durchgeführter Besuch, dort einen eventuellen Angelpunkt zu finden, war fehlgeschlagen - , nicht nur die Devisenbeschränkung wollt ihm Übel,sondern auch ein vermeintlicher Freund war ihm mit dem größeren Betrag der Erbschaftssumme auf und davon gelaufen.
Inzwischen schrieb man das Jahr 1932. Schon gaben sich braune Horden Saalschlachten mit Andersdenkenden. Ein Zurück nach Deutschland schloß sich für Otto Alfred Wolfgang Schulze aus.
Nunmehr "vogelfrei" galt es, die Metropole Paris zu erschließen.
Kristians, ein holländischer Maler und Zechkumpan im Café de Dôme, machte ihn mit Gréty, seiner beschützenden Hand der nächsten Jahre, bekannt.
Vom Café de Dôme zur Rhumerie Martiniquaise war es nur ein Haarbreit. Die Zeit verlor so ihre Dimension. Der Moment schuf die Erhebung gegen die Niedrigkeit des Daseins. So erfüllten ihn die Tage mit der Rumflasche und seinen Zechfreunden. Trotz der Nähe, die man gegenseitig der Flasche wegen pflegte, blieben die anderen für ihn fern.
Die kleinen Zettel, auf denen er nun zuzeiten im Bett liegend, seine Welt beschwört, verwerfen die vergehende Zeit. Ob es Worte oder bildliche Evokationen sind, es will ihm keine Zuversicht gelingen.
Europa liegt darnieder. Politisch geleitete Schurken üben Terror und Gewalt. Wie kann er da noch an die Bedeutung des Individuums glauben? Erscheint nicht die persönliche Reduktion plötzlich glaubhafter? Ruft nicht das nächsthängende Baumblatt, im Gegensatz zum Menschen, eine unverbrüchliche Harmonie wach? Was zählt es da noch, um den Menschen zu wissen? Versagt der Mensch nicht immerfort? Spiegelt nicht die Geschichte sein Auf unf Ab? Sind es nicht Kriege, so sind es Katastrophen, die zerstören.
All dies löst seine Hoffnung auf, sie gibt es nicht mehr.
Ein Mensch ohne Hoffnung: WOLS, indessen annähernd zwanzig Jahre alt, die ersten Martern des Geworfenseins hinter sich, zieht unter beständigem Fluch von einem zum nächsten Hotel. Zurücklassend die Träume der Erhebung, die Arbeiten der letzten Tage als Pfand für die unbeglichene Hotelrechnung, einige leere Rumflaschen und das Gezetere des Hoteliers. Weiss er doch, nächstens wird das gleiche Bild, die gleiche Situation ihn unberührt lassen. Gab es doch zum Glück in Paris ausreichend Hotels der unteren Kategorie, in denen keine Fragen gestellt wurden, da man sich links- und rechtsseitig des Tresens entsprach.
Im Gefälle dieser Geschehnisse verwandeln sich die Tage in Nächte und die Nächte in Tage. Schließlich illuminieren die beständigen Zeitenwechsel eine andere Realität, in der die Gestirne bestimmend werden.
Durch Gréty kommt WOLS nunmehr in Kontakt mit den Brüdern Giacometti, Salvatore Dali und dem größeren Kreis der Surrealisten - später treten auch Jean Paul Sartre, Albert Camus und der brasilianische Maler Antonio Bandeira in sein Blickfeld. Doch selbst diese flüchtigen Begegnungen vermögen nicht, ihn aus seiner inneren Abgeschiedenheit zu lösen. Selten teilt er das Wort mit ihnen, eher die Alkoholika, die stumm bleiben und für den Augenblick der Zusammenkunft die Worte ersetzen.
Allmählich hat sich auch die Erbschaftssumme aufgezehrt. Was tun? Auf welche praktischen Talente kann er zurückgreifen? Doch immer wieder nur die Fotografie. Am besten wäre ein Wanderkino nebst mobilem Portraitstudio mit dem er durch die Provinz ziehen könnte. Nochmals wird die Mutter in Dresden um Geld angegangen. Doch die Zeitumstände stehen für solche Ideen, zumal eines Ausländers, nicht gerade Pate. Inzwischen sorgt Gréty mit ihrer Hutmacherei für sie beide.
So bleibt das Wanderkino auch ein Traum.
Auf Drängen von Gréty beschliessen sie nach Ibiza zu gehen.
Der Morgen, der sie mit dem alten Horch-PKW zur Insel bringt, ist wie die Anspülung des Meeres. Nun ist das hastvolle Gehabe des Großstadtmenschen, dem sie häufig selbst erlagen, wie wettgemacht. Eine entlegene Finca bietet ihnen ein Dach über dem Kopf. Das Meer gebiert seine immergleiche Form der Dynamik, spült Wundersames, nie Vorhergesehenes an, lässt es zurück oder nimmt es mit einer neuerlichen Woge zurück - tilgt den Moment.
Nach wenigen Tagen schon, rufen die Saiten seiner Violone das Zwiegespräch mit der Brandung wach: das Meer lockend, seinen Widerschein. Die Zeit löst so ihre Bedeutung ein, fast wie in Paris, nur äußerlich weniger spektakulär.
Auf einem der Wege, ihre Hüte gegen Lebensmittel einzutauschen, stösst Gréty eines Vormittags auf Ernest Langendorff, den Inhaber einer kleinen Galerie auf der Insel. Auch er ein deutscher Emigrant, den sie gelegentlich miteinander in seinen Ausstellungsräumen besuchen. Jahre danach werden sie sich wieder in Paris begegnen, nachdem WOLS und auch Langendorff die verschiedenen Internierungscamps der Vichy-Regierung durchlaufen mußten.
Überhaupt führt sie ihr Weg miteinander selten bis zur Hauptstrasse der Insel. Zumeist geht Gréty die praktischen Erledigungen alleine verrichten, WOLS mit sich selbst zurücklassend. Ihre selbstgefertigten Hüte unterm Arm, gelingt es ihr zuweilen, den einen oder anderen in Naturalien umzutauschen. Auf einem dieser Gänge begegnet sie auch dem Architekten Baumann, der seit Jahren ein Domizil auf Ibiza besass, dem sie auch gleich einige Zeichnungen von WOLS zeigt, die die Stille der Insel eingefangen hatten.
Doch auch auf Ibiza bleibt der Dialog mit den Menschen bruchstückhaft, so dass sie zur Jahreswende 1934 beschliessen nach Barcelona zu übersiedeln.
Am Placa Catalunya, vis à vis vom Hôtel Colón, veräußern sie kurz nach ihrer Ankunft die Wolssche Violine zu einem Spottgeld, damit sie kurzfristig Quartier in Colón nehmen können, in dem einige Wochen später auch George Orwell sich einmieten wird.
Wie vielen ihrer Entschlüsse, ist auch diesem keine Gunst beschieden. Die junge spanische Republik wird durch rebellierende Truppenteile unter dem Befehl des General Franco in einen beispiellosen Zweifrontenkrieg im Innern des Landes verwickelt. Ausländer, gar solche ohne größere Barmittel, erwecken bei den Behörden sofortiges Mißtrauen. Gréty findet zwar einen Job als Vorarbeiterin in einem Textilwerk, bekommt jedoch von den Behörden keine Arbeitsbewilligung. Zu allem Unglück findet man bei einer Strassenkontrolle in WOLS' Hosentasche ein kleines Säckchen "Zucker", was die Vorurteile gegen Ausländer als berechtigt erscheinen lässt, zumal ihn die Deutsche Botschaft als Wehrflüchtigen ausweist. So wird WOLS kurzerhand verhaftet und Gréty als seine Begleiterin über die Grenze nach Frankreich abgeschoben.
Nach dreimonatiger Internierung im Carcelo Modelo wird WOLS unverhofft eines Morgens verladen und zur französischen Grenze verbracht. Sämtliche Papiere, Habseligkeiten und Arbeiten bleiben als vordem nicht existent zurück. So schlägt er sich durch die Novemberkälte über die Pyrenäen als Illegaler nach Paris durch.
Wieder nimmt ihn diese Stadt fraglos auf.
Die Ortswechsel verändern nichts an seinem Lebensweg. Wie davor schon nehmen ihn die kleinen lichtarmen Hotelzimmer, in denen er für Stunden zwischen Wachsein und alkoholischem Delirium Zuflucht sucht, auf, verschaffen sie ihm doch nur für Stunden Vergessen.
Zum Ende des Jahres 1936 trifft WOLS in der Rue Varenne auf seinen ehemaligen Schulfreund Jean Kohn, dessenthalben er das Gymnasium verließ, da die Mehrzahl der Schüler seinem Freund antisemitisch begegnete. Inzwischen hat Jean Kohn Medizin studiert, ist jedoch wie WOLS ohne Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich. Sie wechseln rasch einige Worte der Verwunderung und tauschen ihre Adressen aus. Einige Zeit danach wird WOLS wegen eines nächtlichen Debakels mit einem geliehenen Auto, mit dem er in der Nähe des Elysée-Palastes einen Zeitungskiosk anfuhr, ihn um Hilfe bitten. Jean Kohn wird es für ihn "regeln", genauso wie er ihm zukünftig Arznei für seine durch den Alkohol angegriffene Gesundheit besorgen wird.
WOLS vertieft nun wieder seine fotografische Neigung.
Vereinzelte Aufträge Pariser Modejournale werden ihm erteilt. Fast gleichzeitig wird er zum offiziellen Fotografen des Pavillion de L'élégance auf der Weltausstellung von 1937 ernannt. Fortan gebraucht er das Pseudonym "WOLS". Diese "öffentliche Anerkennung" erlangt nach seiner Rückkehr aus Barcelona eine unzweideutige Wichtigkeit, da er turnusgemäß seinen Aufenthaltsort und seine Einkünfte auf der Préfecture nachweisen muss.
In Paris wimmelt es indes von deutschsprachigen Flüchtlingen. Kaum einer findet eine passable Überlebenschance. Ihre einzige Rettung sind ihre französischen Sprachkenntnisse. Zumeist widerfährt ihnen Willfährigkeit der Behörden, denen die Last der 'Boches' ein Dorn im Auge ist. Die meisten erwägen nach Amerika auszuwandern und empfinden dieses Stadium des Exils als Übergang. WOLS hat ähnliche Absichten.
Der amerikanischen Schriftstellerin Kay Boule gegenüber, die in diesen Jahren für mehrere Zeitschriften ihres Landes als Korrespondentin tätig ist, wird WOLS diesen Wunsch äußern.In aller Euphorie händigt er ihr auch hundert Aquarelle seines bisherigen Schaffens zur gelegentlichen Mitnahme in die Staaten aus.
Durch den Theaterregisseur Roger Blin lernt WOLS den Dichter und Regisseur Antonin Artaud kennen, der ihm die eine oder andere Publikation von sich schenkt. Dadurch bewogen, intensiviert WOLS sein Interesse an den Meta-Welten anderer. In der Folge vertieft er sich auch in die Werke von Traven, Lautréamont, Rimbaud und Dschuang Dsi.
Meistens verläßt er nur zur Nachtzeit das kleine Hotelzimmer, das er mit Gréty teilt. Auf dem Bett liegend sinniert oder malt er. So "produziert" er in großer Hast seine Aquarelle auf winzige Papierformate, wobei ihn niemals der Gedanke an eine Öffentlichkeit streift. Schließlich sieht er seinen Ausdruck als persönliche Notiz, und selbst die Zustimmung, die ihm sein Freund Jacques Prévert bezeugt, berührt ihn kaum.
Falls er durch einen Fotoauftrag tagsüber das Bett verlassen muß, widersteht er der Anziehung der Brocantes Läden nicht, in denen ihm manches Saiteninstrument unwiderstehlich wird. Seit dem Spanienaufenthalt fasziniert ihn die Kargheit der Volksmusik. Mit dem farbigen Maler Antonio Bandeira oder seiner neuen Geliebten Nanuchka Etchevery, die ihm in der Rhumerie Martiniquaise begegneten, spielt er häufiger im Duett darauf.
Indes wächst auch sein Ruf als Fotograf. Die kleine Pariser Buchhandlung "Les Pleiades" stellt eine Kollektion seiner Aufnahmen aus.
Die politischen Umwälzungen in Deutschland forcieren auch eine Veränderung auf der politischen Bühne in Frankreich. Unversehens steht WOLS auf der polizeilichen Fahndungsliste. Mit einem Augenzwinkern verdeutlicht man ihm, dass er seine Loyalität dem Gastland, in dem er immerhin schon einige Jahre lebe, unter Beweis stellen müsse. Als unpolitischem Menschen bleibt ihm
nur die Flucht in seine Bildwelt.
Was vorher schöpferisches Spiel war, wird nun existentielle Bedrohung. Die Nervosität wird nun in seinen Arbeiten überdeutlich. Der Dualismus schwankt zwischen Traum und Wirklichkeit und wird sich künftig steigern. Schon schwant ihm Unabwendbares, doch in seinem Entschluß, im Exil in Frankreich zu bleiben - trotz der eindringlichen Bitten der Mutter, der man seinetwegen mehrfach zu Leibe rückte, da WOLS der Musterungsaufforderung nicht nachkam - ist er unbeirrt.
Anfang September 1939 wird er im Zuge des Einfalls Hitlerdeutschlands in Polen - wie viele andere deutschstämmige Emigranten - verhaftet. Neun Tage hält man ihn im "Stade de Colombes", einem Fußballstadion, gefangen. Angst und Schrecken bilden die Mauer, vor der sich alle Internierten verbergen. Jeder fürchtet eine Auslieferung nach Deutschland. Der Freitod ist für viele im Lager Ausdruck ihrer Angst.
Noch hofft WOLS auf die Zusagen seiner Freunde, die ihm Hilfestellung versprachen, die allerdings jäh zunichte gemacht werden, als er eines Morgens mit unzähligen Leidensgenossen in Viehwaggons verladen wird und ins Internierungscamp nach Vierzon verbracht wird. Hier erhält er einen Brief André Gides , der ihm versichert, sich bei den Behörden für ihn zu verwenden. Auch dies ist nur ein momentaner Trost, dem seine Verbringung in das Internierungslager von Montargis bevorsteht.
In der Lageratmosphäre entstehen des Nachts bei Kerzenlicht Aquarelle, die seine Situation thematisieren. Seine psychische Verfassung wird zunehmend desolater. Der Kontakt zur Außenwelt ist so gut wie unterbrochen. Gréty versucht trotz der Ressentiments, mit denen man ihr auf den Behörden begegnet, ihr Möglichstes. Die geläufigen Metaphern, wie "jeder Fremde ein Spion" hallen ihr wie ein Echo nach, wenn sie die Stufen der Préfecture hinabeilt.
Verstärkt tritt der Alkohol bei WOLS im Lager in Erscheinung. Die Nächte in dem rissigen Mauerwerk sind plärrend kalt. Selbst die Strohbündel vermögen keine Körperwärme zu speichern. Jede Nacht möchte er erfrieren, damit die Ungewißheit ein Ende finde. Doch jeder anbrechende Tag überzeugt ihn eines anderen: lebend - und doch nicht frei.
Immer neuer Zustrom von dingfest gemachten Emigranten lässt das Lager von Vierzon allmählich aus allen Fugen platzen - es gab nur zwei Toiletten für Viertausend Menschen! - eine Verlegung in andere Lager wird zwingend, wovon auch WOLS betroffen wird.
Die Lebensbedingungen in Neuvy-sur-Barangeon - und in rascher Folge Garigues, in der Nähe von Nîmes und das nachfolgende Camp de Milles bei Aix-en-Provence, sind unterschiedslos. Ob es ein aufgelassenes Ziegelwerk oder eine seit Jahren leerstehende Fabrik ist, die Hoffnungslosigkeit wird allseits zur Bestimmung.
Grétys Bemühungen bleiben nicht ohne Resonanz, ihr wird eine Eheschließung mit dem deutschen Emigranten WOLS zugestanden, so dass er am 29. Oktober 1940 freikommt.
Das Ehepaar erwägt in Cassis, nächst Marseille, eine Behausung zu suchen. Der kleine Fischerhafen, versteckt in einer reizvollen Landschaft, vermittelt Ruhe und die nötige Besinnung in den Turbulenzen der politischen Weltlage. Ihre Not ist bedrückend.
WOLS geht allenthalben zum Meer, liest Steine auf und wird allmählich ausgeglichener. Sein Bruder Helmut kommt zu Besuch. Eine lose Beziehung zu dem am Ort ansässigen Bildhauer E. Martin entwickelt sich. Noch immer steht eine Auswanderung für Gréty und WOLS nach Amerika zur Debatte.
Das Meer und die Landschaft um Cassis inspirieren WOLS zu vielfältigen Zeichnungen und Aquarellen. Unmerklich gehen so die Tage dahin, als wäre die ganze Unbill, die ihnen widerfuhr, nie geschehen. Paris liegt in weiter Ferne, wie nahe liegen die Erinnerungen daran. Doch als Deutschem ist WOLS die Rückkehr in die okkupierte Hauptstadt verwehrt. Wie lange wird das Hinterland noch unkontrolliert sein? Wieder lässt das Meer die Angst vergessen machen. Doch auch dieser beschauliche Zustand ist trügerisch, denn die deutschen Truppen sind im Anmarsch. Wieder heißt es fliehen.
Panikartig füllt WOLS statt mit seinen Arbeiten , die Taschen und wenigen Koffer mit den gefundenen Steinen und Muscheln. Auch diesmal erweist Grétys klarer Verstand sich als Rettung. Nach Dieulefit wird aufgebrochen. WOLS trägt schwer an der Muschel- und Steinlast. Wieviel wichtiger als seine Arbeiten sind ihm diese Naturwunder geworden.
Nach beschwerlicher Reiseroute und ausgiebigen Fußmärschen, gelangen sie nach Dieulefit. Außerhalb des Ortes finden sie ein altes Gemäuer, das sie notdürftig herrichten. Bislang nutzte es der Besitzer als Hühnerstall, wovon er ihnen den größeren Teil abtritt. Der Bürgermeister unterlässt es geflissentlich, ihre Personalien in die Gemeindekartei einzutragen, um sie nicht zu gefährden. Die Gemeindesekretärin, Mme Bernier, versucht sich in der Vermittlung von Bilderkunden im Ortsbereich für WOLS und besorgt Lebensmittelkarten.
Nun liegt auch das Jahr 1942, das sie noch vorwiegend in Cassis zubrachten, hinter ihnen. Wieder sind es die Erinnerungen, die die Gegenwart in Dieulefit verklären. Der Dichter und Filmregisseur Henry Pierre Roché, der als Lehrer an der Ortsschule Unterschlupf gefunden hat, schließt mit ihnen Bekanntschaft. Durch ihn erfährt WOLS eine nachhaltige Bestätigung als Künstler. Von Fall zu Fall erwirbt Roché das eine oder andere Aquarell und tritt mit WOLS in einen lebhaften intellektuellen Dialog. Bücher werden ausgetauscht. Gemeinsame Wanderungen in die umliegende Gegend finden statt. WOLS liest "Heureka" von Edgar Allan Poe und die greifbaren Ausgaben von Faulkner, Lao-Tse, Gandhi, Meister Ekkehart. Einige fast topografische Federzeichnungen entstehen, die Architektur fasziniert ihn plötzlich.
Der Tag der Befreiung Frankreichs naht und wieder trifft sie eine unvorhergesehene Situation: alliierte Truppen stürmen ihre außerhalb des Ortes gelegene Behausung. Nachdem sie feststellen, dass WOLS Deutscher ist, kommandieren sie ihn und Gréty an die Wand. WOLS bleibt schweigend, schaut nochmals zu Gréty hin, die, fassungslos, sich der Gefahr bewußt wird und englisch radebrechend auf den offensichtlichen Irrtum verweist, dem diese versprengte Mannschaft verfallen war. Der Colonel gestattet ihnen schließlich, ihre 'Unschuld' auf der Kommandantur nachzuweisen. Nach einem hochnotpeinlichen Verhör, das den Tag über dauert, lässt man sie wieder frei. Als sie am Abend zu ihrer Behausung, dem hergerichteten Hühnerstall, zurück kommen, finden sie diese geplündert vor. Zu allem Unglück entnimmt der Eigentümer der Behausung, Tage nachher, aus einem dazu gehörenden Schuppen, den WOLS zur Auslagerung größerer Formate verwendet, mehrere daraus, um damit seinen Teil des Hühnerstalls abzudichten.
Trotz dieser Widrigkeiten, beginnt WOLS, intensiver denn je, seiner subjektiven Schau der Dinge eine mehr kosmische Orientierung zu geben.
In seiner Bildwelt werden so die Spuren seiner Veränderung offenkundig. Obwohl sein Leben das eines Flüchtlings bleibt, dem die Schnapsflasche inzwischen zum unentbehrlichen Stimulus wird, ist er sehr produktiv. Die Berührung mit der Natur von Dieulefit führt ihn immer mehr zu einer pantheistischen Sicht. Nicht zuletzt der lebhafte Kontakt zu Roché, der ihm auch die östliche Philosophie näher bringt, bewirkt dies mit. Roché ist es auch, der den Pariser Kunsthändler Drouin auf sein Schaffen aufmerksam macht.
Im April 1945 schlägt er WOLS nach einem Besuch, eine Ausstellung in seiner Galerie vor, wofür er auch die Malutensilien bereitstellen will, über die WOLS bislang, bis auf das Nötigste, verzichten musste. Spontan erklärt er seine Zustimmung, dabei nicht berücksichtigend, dass René Drouin auch eine Übersiedlung nach Paris mit seinem Angebot verbunden hatte, was WOLS erst Tage danach in seiner Tragweite erkennt. So wird er diese Zusage annullieren, wie er auch die Ausstellung in Drouins Galerie Vendôme durch einen Anwalt untersagen lassen möchte.

Kurz vor der Eröffnung am 21. Dezember nehmen WOLS und Gréty wider Erwarten ihren Wohnsitz in Paris.
Bald darauf lernt WOLS Jean Paul Sartre und Simoe Beauvoir kennen. Umgehend wird er nun für Sartre, Alain Borne, Camille Bryen, Jean Paulhan und Antonin Artaud, denen er jetzt häufiger begegnet, Illustrationen für ihre Publikationen machen.
Die fieberhafte Aufbruchstimmung in der Hauptstadt der 'Grande Nation' ist indes unbeschreiblich. Der Existenzialismus und die amerikanische Literatur von Faulkner bis Dos Passos und der Jazz geben sich siegreich die Hand. WOLS verkörpert in diesem Augenblick geradezu den 'artiste maudit'.
Die Ausstellung bei Drouin wird ein öffentlicher Mißerfolg. Einige Tage nach der Eröffnung macht WOLS einen Rundgang durch die Ausstellungsräume, dabei wird er seinem Hund die Äußerung zugedenken: "mein gelber Hund mit seinem vom Alter weißen Haar...er sagt mir, deine Malerei ist idiotisch."
Georges Mathieu, Jean Paulhan, Georges Limbour verfassen emphatische Artikel über sein Werk. WOLS ist dies alles gleichgültig. Was zählt, ist der Moment und nur dieser zählt.
Die Beziehung zu Gréty gestaltet sich zunehmend schwieriger. Gelegentlich verläßt sie ihn, was sie jedoch nicht daran hindert, ihn wirtschaftlich zu unterstützen. Zuweilen bringt sie ihm und seinen Zechfreunden, zu denen inzwischen der junge Schriftsteller Philippe Bernier gehört, zum Hauptumschlagplatz der Zeit - in die Rhumerie Martiniquaise - alkoholischen Nachschub, der sofort unter der Tischplatte in Deckung gebracht wird.
WOLS' augenblickliche Produktivität ist schwindelerregend: Ölbilder, Aquarelle, Radierungen, die er mit der Grammophonnadel macht. Dazu kommt der ständige Wohnsitzwechsel, fast täglich von einem ins nächste Hotel.
Seine Gesundheit verfällt allmählich. Befreundete Ärzte raten ihm dringend, eine Entwöhnungskur zu machen. WOLS fegt solche Empfehlungen mit einer Handbewegung vom Tisch. Im August 1947 begibt er sich infolge einer nervösen Depression ins Hôpital Cardinal Richelieu de Bon Secours. Die Ereignisse überstürzen sich. Er kann nur noch auf einen Stock gestützt gehen. Der Galerist Drouin ist bankrott und muss seine monatlichen Zahlungen an ihn einstellen. Somit ist seine bescheidene materielle Basis aufgehoben. Gréty eilt ihm wieder zu Hilfe. Sehstörungen stellen sich ein. Die Angst blind zu werden, veranlasst ihn, eine Entziehungskur im Hôpital St. Anne durchzuführen. Gréty reicht die Scheidung ein. Sartre übernimmt die Mietzahlungen für seine wechselnden Hotelzimmer.
Ein sichtbarer Erfolg als Künstler tritt ein.
Er millustriert Novellen von Kafka für den Verlag Rasmussen. Für Antonin Artauds Théatre de Séraphin macht er den Radierzyklus "L'Invité des Morts". Sartre bittet Gréty, WOLS doch beizustehen, sie willigt ein. Gemeinsam beziehen sie eine bescheidene Wohnung in der Rue des Saints Pères, werden jedoch sofort wegen Ruhestörung wieder hinausgeworfen. Gréty verlässt ihn abermals. Am 22. Januar 1949 bricht er sich im alkoholisierten Zustand die Kniescheibe, verweigert aber jegliche ärztliche Behandlung. Gréty lässt ihn gegen seinen Willen ins Hospital einliefern. Er wird operiert, verlangt danach aber seine sofortige Entlassung. Für Monate muss er nun das Bett hüten. Gréty bringt ihm täglich eine Mahlzeit, die er mit Nanuchka Etchevery, die nun sporadisch bei ihm lebt, teilt.
Jean Paulhan versucht von WOLS gepfändete Arbeiten bei den jeweiligen Hoteliers herauszubekommen. Außerdem setzt er Bittgesuche an den 'Service Social d'Aide aux Emigrants' auf, mit der eindringlichen Bitte, diesem "großen Talent, das nicht einmal über das Allernotwendigste verfügt, doch Hilfe zu gewähren."
Im März desselben Jahres veranstaltet die 'Galérie des Liseaux' eine Einzelausstellung. Gleichfalls im April die 'Galérie del Millione' in Mailand. Und im Mai findet in der Pariser 'Galérie Pas Perdus' eine Präsentation seines Werkes statt. Am 10. September erscheint 'Nourritures' von Sartre mit Radierungen von WOLS.
Auf WOLS' Bitte besucht ihn sein Bruder Helmut. Dieser ist über seinen Zustand entsetzt. WOLS spricht ihm von seinem baldigen Tod.
WOLS' Schulfreund, der Arzt Jean Kohn, möchte ihn sofort in eine Entzugsklinik einweisen.
Bei WOLS indes treten Symptome einer Gelbsucht und einer Leberzirrhose, sowie ein akutes Nierenproblem auf.
Im Januar 1950 veranstaltet die New Yorker 'Jolas Hugo Gallery' eine umfassende Werkschau.
Die Mutter eilt aus Dresden herbei. Sie ist entsetzt, wie sein Bruder, über die Verfassung ihres Sohnes.
WOLS nimmt an der wichtigen Gruppenausstellung 'Véhémences confrontés' in der Galerie von Nina Dausset in Paris teil. Außer WOLS sind vertreten: Byren, Capogrossi, Hartung, Mathieu, Michaux, Riopelle, de Kooning und Pollock. Nach der Eröffnung der Ausstellung lädt Dr. Jean Dausset die beteiligten Künstler zu sich nach Hause ein, merkt dabei, dass WOLS nicht mehr fähig ist, die Treppe zum vierten Stock allein hochzusteigen. Riopelle und Mathieu eilen ihm zu Hilfe. Ähnlich geht es allabendlich, wenn ihn seine Freunde zur Rhumerie Martiniquaise abholen.
Auch Dr. Dausset drängt mit Nachdruck auf eine Entziehungskur, erwähnt dabei unumwunden, dass dies seine letzte Rettung sei, andernfalls müsse er mit dem baldigen Tod rechnen.
Die Kunsthistoriker Kurt Martin und Konrad Röthel besuchen WOLS. Sie sind von seinen Arbeiten überaus angetan. Gréty bewirtet sie in der Kärglichkeit des Zimmers. WOLS spielt auf dem Banjo im Bett liegend Bach Kompositionen für Laute.
Tage danach erscheint Dr. Dausset und will WOLS wie besprochen zur Entziehungskur abholen. Er liegt auf dem Fußboden, neben ihm Nanuchka auf der Laute spielend, Gréty sitzt am Fenster und näht. WOLS macht keine Anstalten mitzukommen. Dausset appelliert nochmals an seine Vernunft. Nanuchka unterbricht endlich ihr Spiel und beginnt ihn anzuziehen, während Dausset auf ihn einredet. Doch WOLS weigert sich noch immer mitzukommen. Nanuchka setzt erneut ihr Spiel fort. Da ergreift der Arzt WOLS unterm Arm und führt ihn schrittweise zum Korridor. Die Klänge im Hintergrund, geht es die Treppe hinab, bis zum Wagen in der Rue de Bac. Die Diagnose im Hôpital Saint Antoine lauter: Leberzirrhose Ascites, das bedeutet der Bauch ist voller Flüssigkeit und Blutungen.
Gréty weicht auch in dieser Situation nicht von seiner Seite. Widersteht jedoch auch nicht seinen Forderungen, ihm heimlich Alkohol zuzustecken. Die Atmosphäre in dem geräumigen Krankensaal ist für WOLS unerträglich, eigentlich möchte er davonlaufen. Seine abgrundtiefe Angst vor jedweder Kasernierung lässt die Wochen endlos erscheinen. Er wirft Dausset vor, dass er ihm die Inspiration mit dieser Kur genommen habe. Doch nach den ersten Tagen versieht er auf seinem aufgequollenen Bauch, den er als Unterlage benutzt, kleine Zettel mit den Spuren seiner Einfälle. Ansonsten gehen die Tage unter großen Qualen dahin, manchmal vergisst er beim Anblick des Plafond seinen augenblicklichen Zustand. Dann wieder spricht er in einer obsessiven Haltung von seinem bevorstehenden Tod im August desselben Jahres.
Nach Beendigung der Entziehungskur zieht er erneut mit Gréty ins Hôtel des Ministères, mietet jedoch umgehend ein Häuschen in Champigny-sur-Marne, 34, Quai Luci.
Wieder kehrt sein tiefes Verhältnis zur Natur zurück, er wirkt ausgeglichener und arbeitet beharrlich. Da stellt sich wieder die Beschaulichkeit, die er in Cassis und Dieulefit erlebte, ein.
Er schwimmt viel, legt sich verschiedenes Federvieh zu und trifft gelegentlich Roché, der in der Nähe wohnt. Mitunter vermißt er seine Freunde und die Atmosphäre von Paris.
Der Pariser Galerist Paul Loeb erwirbt zehn Aquarelle von ihm, so dass er auch der drückendsten wirtschaftlichen Probleme enthoben ist.
Aber das düstere Schicksal nimmt seinen Lauf: eines Nachmittags taucht Nanuchka Etchevery auf, die mittlerweile nach Südamerika geheiratet hatte, und nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Gréty wegen des neuerlichen Erscheinens von Nanuchka, drängt WOLS sie, ihn zu verlassen.
So durchstreift er nun mit Nanuchka die umliegenden Bistros und verfällt wieder seiner Tod bringenden Droge, dem Alkohol.
Einer Eingebung folgend übersiedelt er wieder zu Gréty nach Paris. Bald darauf kehrt er des Nachts hungrig heim und verlangt von Gréty etwas zu essen. Sie bereitet ihm ein Stück Pferdefleisch zu, das den Tag über auf dem Fensterbrett gelegen hatte. Eine Weile nach dem Verzehr klagt WOLS über heftige Bauchschmerzen und erbricht sich. Er verlangt nach einem Arzt in seiner Todesnot, das ist für ihn außergewöhnlich. Es ist fünf Uhr früh. Gréty ist es nicht möglich, einen Arzt zu finden.Am 28. Oktober bringt sie ihn schließlich in der Notaufnahme des Hôpital Broussais unter. Blinddarmentzündung lautet die Diagnose. Man legt ihm Eiswürfel auf den Bauch und lässt dies drei Tage zur Heilung geeignet erscheinen.
Rein zufällig erkundigt sich Dr.Dausset bei Gréty nach WOLS. Als er erfährt, dass WOLS im Hôpital Broussais sei, veranlasst er eine sofortige Verlegung ins Hôpital St. Antoine, in dem er tätig ist. Das Krankenhauspersonal hat den Sterbenden in schlechter Erinnerung und begegnet ihm mit Vorurteilen. WOLS wird in einem äußerst kritischen Zustand aufgenommen. Wie sich herausstellt, ist die Pferdefleischvergiftung schon sehr weit fortgeschritten. In Abständen verliert er immer wieder das Bewußtsein.
Am Freitag, den 31. August, nach einer unruhigen Nacht, verlangt WOLS zum Sterben in das luxuriöse Hotel Montalambert gebracht zu werden. Dr. Dausset und seine Kollegen sehen keine Überlebenschance für ihn und willigen ein.
Der Pförtner lehnt eine Zimmerreservierung ab, lässt jedoch seine Bedenken hinfällig werden, als Dr. Dausset ihm ein großzügiges 'Salär' zusteckt. Durch den Hintereingang schaffen sie WOLS auf einer Bahre in ein lichthelles Zimmer. Gréty und Dausset legen ihn aufs Bett.
Der Abend bricht allmählich an und vermischt die Zeit.
Der Augenblick evoziert nochmals für Momente die Erinnerung an Cassis, das Meer, die Stille.
Ohne Vebitterung spricht WOLS davon,
"dass ihn in Cassis die Steine, die Fische, die Felsen, das Salz des Meeres und der Himmel, die Wichtigkeit des Menschen vergessen ließen.Sie ihn aufgefordert haben, sich abzuwenden vom Chaos unserer Betriebsamkeit und ihm in den kleinen Wellen des Hafens, die immer wiederkehren ohne gleich zu sein, die Ewigkeit aufgezeigt wurde."
Am 31.August 1951, kurz nach Mitternacht, entschläft WOLS, siebenunddreißigjährig.
Die Beisetzung findet im Kreis seiner Freunde auf dem Friedhof Père Lachaise statt: erhalten blieb uns sein Werk.

Gerhard Götze
NIKE EUROPEAN PHOTOGRAPH No. 4

Reise ans
Ende der Nacht

JEAN GENETs Erinnerung an Alberto Giacometti


„Bonjour Monsieur Genet!", grüßte ich und schob hinterrücks die Schiebetüre zu. Tags zuvor hatten wir vereinbart, uns im Zug auf der Strecke München/Paris zu treffen. – „Sie werden mich finden", war sein abschließender Kommentar am Telefon.
Nachdem ich mehrere Abteile geöffnet hatte, ohne ihn wahrzunehmen, stand ich nun unvermittelt vor ihm: das Gesicht älter geworden. faltiger, die tiefliegenden Augen noch markanter betonend; die Fülle seines vormals fleischigen Gesichts ebenmäßiger verteilt.
Ruckartig fuhr der Zug an. Ich nahm ihm schräg gegenüber Platz. Außer uns war niemand im Abteil. Vereinzelte Lichter schienen plötzlich durch die Geschwindigkeit des Zuges ähnlich Irrlichtern auf, um sogleich wieder in der Finsternis zu erlöschen.
Genets und mein Thema in dieser Nacht: der Bildhauer Alberto Giacometti, dem wir beide, jeder auf seine Weise, verbunden waren.

Jean Genet und Alberto Giacometti verband eine lebhafte Freundschaft. Mich verband mit Alberto Giacometti die Bewunderung seines Werkes.

Nachdem wir uns schweigend einen Eindruck voneinander verschafft hatten, begann ich ihn zu fragen, wie er Alberto in all den Jahren, den wechselnden Begegnungen empfunden habe?

„Wie die Nacht“ - hier wandte er sein Gesicht vom Fenster ab - „die damit ringt, den kommenden Tag preiszugeben...“. Zumeist durchfocht er diesen Kampf mit einer in Arbeit befindlichen Skulptur. Von innerer Anspannung müde. Das Gesicht, die Hände von Staub beschmutzt. - Für Alberto war es immer ein Ringen,

Meistens blieb ich einige Minuten auf dem Abtritt zum Atelier stehen, bis er mich sah, wobei er mich zuweilen aufforderte, mit ihm in die Rue d' Alesia ins Café zu gehen. Manchmal debattierten wir, doch zumeist rauchten wir nur eine Zigarette zusammen und schwiegen. Starrten aufs Trottoir, belustigt über das eine oder andere entgegenkommende Gesicht“.

Genet wand seine kräftigen Hände beim Sprechen ineinander, als wenn er damit die Worte freisetzen wollte, wusste ich doch, dass er unheilbar krank war, wir uns vielleicht zum letzten Mal trafen, womöglich aus meiner Idee eines Filmes über Alberto Giacometti, in der Schilderung von Jean Genet, nichts werden würde.

Ich versuchte, meine Vorstellung zu skizzieren: am Innenarm der Seine, einige Meter unterhalb der Avenue de Saxe, rechts davon die sich vom Morgentau befreiende Seine. Genet zur Kamera kommend. Monologisierend. Zwischen rein geblendet die Skulpturen Albertos:

Schreitende Figur/ gehender Jean Genet/ Stille und Worte...

Das Getöse und der Windstoß eines entgegenkommen den Zuges unterbrach meine Ausführungen. Wir schauten uns an. Was interessierte uns beide an diesem Mysterium Alberto Giacometti? Genet legte seine Beine auf den gegenüberliegenden Sitzplatz.

„Nachdem ich Alberto schon vier Jahre kannte, es war Mitte der Fünfziger Jahre, trat er eines Tages nahezu verstohlen auf mich zu:
„Neulich habe ich einige Zeichnungen aus dem Gedächtnis von Dir gemacht. Willst Du sie sehen?“
Es war das erste Mal, dass er mir Arbeiten zeigen wollte.
„ Zufrieden bin ich nicht ganz damit!' -, fügte er hinzu.
Ich betrachtete sie aufmerksam: Sah er mich so! Wie sah ich mich selbst? Ähnlich wie Alberto? War ich unversehens der historisch losgelöste Jean Genet, in dessen Gesichtszügen sich die Jahre des Gefängnisses verbargen, wie ihn Alberto empfand?“

Genet schloß die Augen. Wiederholt war Genet in Italien, das er mit Portugal wegen seines Rheumaleidens aufsuchte. Auch jetzt, wodurch unsere Begegnung begünstigt wurde.

"Häufiger -, wenn ich in Albertos Atelier kam, er allein war, oder Annette, seine Frau, Modell saß, überkamen mich Bedenken, ihn in dieser hermetischen Stille zu stören. Alberto missbilligte mein Kommen nie. In unseren Begegnungen waren wir wie sehr vertraute Nachbarn. Lange blieb ich sowieso nie im Atelier. Ich sog mich von der Atmosphäre voll und ging dann entweder mit ihm oder ließ ihn mit seiner Arbeit zurück.
In solchen Momenten wurde mir immer deutlicher, wie sehr die Einsamkeit unser einziger greifbarer Moment bleibt. Diese Haltung verkörpern auch seine Skulpturen für mich.

An bestimmten Tagen, an denen ich ihn nicht im Atelier vorfand, stieß ich im Zimmer nebenan auf ihn, das er mit Annette teilte. Lange entbehrte der Fußboden jeglicher Zementierung und wenn es rein regnete, dann stak man im Lehm. Erst auf Annettes Drängen erklärte sich Alberto bereit, billige naturfarbene Kacheln legen zu lassen. Eine größere, gar luxuriösere Wohnung, hätte er für sich nicht beansprucht, im Gegenteil, bescheidener hätte er es gerne noch gehabt.“
„Und Diego lebte doch nebenan?"
"Diego bewohnte den übrigen Teil des Gebäudes, auch zwei Räume, einen Atelier- und einen Wohnraum. - Ja. so waren in Albertos nächster Umgebung auch gleich seine Modelle, Annette und Diego, greifbar.
Immer wieder, wenn mir Albertos Skulpturen ins Gedächtnis treten, fühle ich mich an Schlacke erinnert, an Ausscheidungen eines langen Brennprozesses. Die Köpfe ätherisch-schwebend - und die Füße wie Bleiklumpen.
„Warum diese schweren Füße - oder Sockel, wie man will“-, frage ich mich immerzu.
Und doch: gerade in der Zusammenhanglosigkeit des Raumes schufen sich diese Skulpturen ihren wie angewurzelten Platz. In der europäischen Plastik gibt es ja nichts Vergleichbares. Lehmbrucks Arbeiten, beispielsweise, sind viel ebenmäßiger. Weniger von der rastlosen Ausdauer beschadet, mit der Alberto Druckstellen wie schwelende Wunden auf seinen Fingern zurückließ. - In jeder Furche liegt der Augenblick begründet. Wie Dellen auf dem Körper eines Menschen, die sich nicht mehr ebnen -: fast schon Existenzmale oder Brandmale.
Doch ich wollte eigentlich von unseren Portraitsitzungen erzählen: Wieder saßen wir einmal im Café, als Alberto die Frage an mich richtete, ob ich ihm Modell für ein Portrait sitzen wolle. Natürlich, erwiderte ich. Ich wusste zwar von der Prozedur, die andere mit ihm hatten, insbesondere Jean Paul Sartre, ließ mich jedoch dadurch nicht beirren. So erschien ich zur verabredeten Zeit. Diego, Albertos Bruder, empfing mich schmunzelnd im Hof, der das Atelier zur Straße hin abgrenzte. Wir wechselten ein paar Worte der Begrüßung, wobei er erwähnte, dass Alberto die zurückliegende Nacht durchgearbeitet habe. Als ich das Atelier betrat, stand die Staffelei schon rechts vor dem Kanonenofen. Verschiedengroße Pinsel lagen in Reichweite. Es roch nach Terpentin und grundierter Leinwand.
„Nimm dort Platz!", wies Alberto wortkarg auf den in einiger Entfernung zur Staffelei stehenden Schemel. Ich nahm wie angewiesen Platz, und versuchte eine bequeme Haltung einzunehmen. Was mir sofort ins Auge fiel, war Albertos entzweigebrochene Brille, die ihm auf der Nasenspitze saß. Immer dann, wenn er mich musterte, befürchtete ich, dass sie zu Boden fallen könnte. Nachdem er mich auf die gewünschte Haltung aufmerksam gemacht hatte, versah er in gestischen Zügen die Leinwand mit Pinselstrichen.
Wir sprachen kein Wort. Im einfallenden Lichtkegel bewegten sich die Staubpartikel. Der Ofen rumorte. Albertos Füße zertraten die Gips- und Tonreste auf dem Fußboden und unterbrachen die räumliche Stille. Manchmal ertönte der Pinsel durch die Heftigkeit seines Auftragens auf der Leinwand. Wenn er zu sehr troff, nahm er rasch einen Lappen aus seiner Hosentasche und wischte ihn daran ab. Allmählich verdichteten sich die Linien auf der Fläche.
Mein Brustkorb schien schon in deutlichen Konturen auf, mein Kopf war mehr im Raum angeordnet. Indessen fielen meine Schultern wie schwere Mehlsäcke nach vorne. Meine Balance ließ nach. schließlich hatte ich keine Übung im Portrait sitzen.
"Können wir eine Pause machen?", bat ich, Alberto schien meine Frage überhört zu haben, Nochmals räusperte ich mich, woraufhin er nur noch von „einem Moment“ sprach. Ich trat wie benommen in den Hof. Das Tageslicht blendete mich. Nach einer Zigarettenpause ging ich dann wieder zurück.
"Sollen wir heute weitermachen, Alberto?'
"Vielleicht morgen um die gleiche Zeit", sagte Alberto, noch mit der Ausbesserung des Bisherigen beschäftigt.
Anderntags erschien ich zu dem verabredeten Zeitpunkt. - Ein unwirtlicher Tag! Es regnete, und die Wolken hingen darnieder. Im Atelierhof sprang ich über mehrere Pfützen bis zur Türe. Im Atelier war niemand anwesend.
Wieder nahm ich auf dem Schemel Platz. Die Reglosigkeit des Raumes beschwor eine eigentümliche Atmosphäre. Ringsumher die Skulpturen. Das begonnene Portrait von mir: entsprach es mir wirklich durch seine gattungsbezogene Eigenständigkeit? Plötzlich hörte ich Schritte zur Türe kommen.
"Ah, Du hast schon Platz genommen! Wollen wir sehen, wie es heute geht..."
Sodann rückte Alberto verschiedene Gegenstände aus dem Blickfeld.
"Mehr nach rechts, Jean! Ja, so!', wies er mich an.
"Wolltest Du Dich nicht gestern Abend mit Louis Jouvet wegen der Aufführung Deines Stückes "Les Bonnes" treffen? Ihr hattet doch eine Straffung der Abfolge vor. Klappte es?!" - "Jaja, wir strichen einige Passagen zusammen. Dadurch ergibt sich eine größere und raschere Verkettung. Die Figuren spiegeln sich dadurch besser. Jouvet und mir bereitete es keine Mühe. Unsere Vorstellung war fast identisch!
„Meinst Du Alberto, wir kommen heute voran?"
Gerade heute schien mir, waren wir beide nervös. Alberto quälte sich, wie ich fühlte, und ich war unruhig wegen der Einstudierung, bei der ich gerne anwesend gewesen wäre.
"Alberto", sagte ich eine Weile darauf, "mir wäre es passender, wir würden eine Unterbrechung machen, damit ich Louis Jouvet bei den Proben assistieren kann, was meinst Du?!“
"Wenn es Dir wichtig ist? Mit Deinem Portrait komme ich soweit alleine voran, falls nicht, schieben wir es auf."
So war ich für meine Belange frei. Die Umrisszeichnung saß sowieso schon. Im Gegensatz zu anderen Portraits, bezog Alberto meine angewinkelten Beine mit ins Bild ein. Es bekam dadurch eine weniger klassische Prägung.
Wochen später, nachdem die Premiere meines Stückes "Les Bonnes" vorüber war, suchte ich Alberto wieder auf.
Wahrhaftig, er hatte inzwischen weiter daran gearbeitet, und wie mir schien, bedurfte es nurmehr kleiner Ergänzungen. Er war ausgesprochen überrascht, dass es mir gefiel. Und wie er mir mitteilte, fand auch Sartre Gefallen daran, der indes einmal bei ihm vorbeigeschaut hatte. Wir verabredeten für die folgenden Tage noch ein paar Sitzungen, sodass es vergleichsweise schnell beendet war.
Nur was dann damit machen?
Alberto erwog, es mir zu schenken. Was ich von mir wies.
War ich mir nicht ohne mein Abbild selbst genug? Außerdem bei meiner Unbehaustheit! Heute in Paris und morgen andernorts. Mein Leben bestand doch nur aus Stationen. Dies gab ich ihm zu bedenken. Schließlich nahm es der Galerist Maeght in Verwahrung, bei dem es heute noch ruht.
Genet ließ sich in den Sitzplatz zurückgleiten und schloss erneut die Augen. Aus dem Lautsprecher der Kabine drang die Ansagerstimme:
"In wenigen Minuten erreichen wir den Gare de L'Est“. Kurzentschlossen vereinbarten wir noch ein neuerliches Treffen, dem jedoch Jean Genets plötzlicher Tod zuvorkam.

(Erstveröffentlichung: „Spuren“ No 19. Juni 1987)

Gerhard Götze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Januar 1986

Diego Giacometti - Ein Besuch in der Rue Molin Vert


Es war ein verhangener Tag; Paris erweckte den Eindruck eines rastlosen Bazars, als ich beabsichtigte, Diego Giacometti, den Bruder und Weggefährten des berühmten Skulpteurs Alberto, in ihrem noch immer gemeinsamen Atelier zu besuchen.
Der Komponist Pierre Boulez, mit dem ich Tage zuvor wegen eines Filmprojektes zusammengekommen war, wies mich auf die Möglichkeit hin, Diego aufzusuchen, den er durch seine Freundschaft mit Alberto kannte.
Mehrmalige Versuche, mich telephonisch anzumelden, waren fehlgeschlagen. Da ich die Gelegenheit nicht verstreichen lassen wollte, begab ich mich unangemeldet in die Rue Molin Vert. Eine Straße, die bei uns selten anzutreffen ist: mittelbreit, mit allerhand kleinen Geschäften des täglichen Bedarfs, schmucklos wie eh und je. Vereinzelt stand der Epicier behäbig zwischen Tür und Angel, wartend oder sich gerade mit dem letzten Kunden über Gott und die Welt sich auslassend oder über den kleinen Fiffi, der von seinem Herrn artig an der Leine gehalten, längs ausgestreckt zwischen ihnen lag. Das nämliche Gespräch säumte eine Autoschlange, da sich wieder einmal ein Auslieferer die Freiheit nahm, unverfroren die Durchfahrt zu versperren. Plötzlich ertönte aus der hinteren Autoschlange ein Hupkonzert, vereinzelte Stimmen stießen unflätige Wortsilben aus ihrem Autofond hervor. Unbeirrt betrat ich den nächstliegenden Laden, fragte nach dem Atelier der Giacomettis; "Dort drüben", wurde mir bedeutet, worauf ich mich bedankte und wieder ins Freie trat. Noch immer war die gleiche Situation in der Rue Molin Vert. Der Auslieferer hatte sein Fahrzeug geringfügig voranbewegt und war neuerlich im Begriff, die Türen seiner Ladefläche zu öffnen. Was war der Grund, der mich zu diesem alten Mann führte, diesem "Überrest einer Epoche", einer Epoche, die für meine Generation - der Nachkriegsgeneration - so beispielhaft werden konnte; waren es die singularen Künstlerpersönlichkeiten oder gar die Epoche; dieses Tollhaus, in dem höchste künstlerische Emanation und absolute politische Verderbnis einhergingen?
Als ich vor dem angewiesenen Eisentor stand, auf dem vereinzelte Lichtschatten ruhten, überkamen mich fast Skrupel.
Wie häufig hatte ich mich mit Albertos Skulpturen, mit den endlos vielen Bronzebüsten, die er von Diego machte, auseinandergesetzt. Und nun bestand die Möglichkeit, dieses wenig wirkliche Bild gegen die Wirklichkeit
einzutauschen. Was ließ mich zaudern? - Schließlich währten diese Bedenken nur einen Moment, als ich schon mitten in dem Geviert des kleinen Hofes stand, wo rechts das Atelier und einige davorstehende Bronzemöbel Diegos mich empfingen (vielleicht waren sie für das vor seiner Eröffnung stehende Picasso-Museum oder für sonst einen Auftraggeber?).
Im Atelier, das ich nach einem weiteren Blick auf diese einzigartigen Möbel betrat, brannte Licht. Ein Gehilfe mittleren Alters verrichtete seine Arbeit; verwundert, nicht Diego anzutreffen, grüßte ich und fragte, wo ich ihn fände. Hinten im Haus, wies er in den hinteren Teil des Hofes.
Es waren nur wenige Schritte, die das Atelier von dem zurückliegenden Gebäude trennten. Die Haustüre war angelehnt. Nachdem ich mehrmals geklopft hatte, doch keine Erwiderung vernahm, schob ich die Tür behutsam nach innen. Im Flur angelangt, erblickte ich rechts von mir in einem kleinen, angrenzenden Zimmer, Diego, den Kopf auf den Händen ruhend abgestützt, an einem zierlichen Tisch. Ihm zur Rechten ruhte auf dem Fenstersims eine buntscheckige Katze. Bislang hatte mein Erscheinen keine Reaktion ausgelöst. Es schien, als störte ich den Nachmittagsschlaf, den Herr und Tier nahmen? Allmählich trat ich näher zur Türöffnung des Raumes und klopfte an den Türstock - "Bonjour Monsieur!" Unvermittelt wandte er den Kopf zur Seite. Nochmals grüßte ich und setzte - gleichsam erklärend - meinen Namen hinzu. Mit einer Geste seiner Hand wies er mir sich gegenüber Platz an. Plötzlich kam mir diese Begegnung in ihrer Realität so selbstverständlich vor, daß alle anfänglichen Bedenken als ungerechtfertigt erschienen. Oberhalb des Tisches, an dessen seitwärtigen Teilen wir saßen, hingen mit Stecknadeln befestigte Studien Albertos, vielleicht hatte Diego auch diese vor der Zerstörung durch seinen Schöpfer bewahrt. Mir zur Rechten standen verschieden große Terrakotten und andere Grabbeigaben außereuropäischer Provenienz. Seit unserer Begrüßung hatte sich ein Gespräch nicht so recht anlassen wollen. Meine Augen wanderten ziellos aufnehmend, assoziierend, Bruchstücke meiner Kenntnis der Vita Albertos und Diegos in Einklang mit den Gegebenheiten zu bringen suchend. Diegos Hände, sehr schmal und feinnervig, ruhten, reglos wie sein ganzer Körper, auf der unbeantworteten Post, die einen Großteil der Tischplatte bedeckte und deren Beantwortung wohl auch für immer ausstand -: so ruhten sie auf den ausgebreiteten Worten und bildeten die vergehende Zeit.
Um das Gespräch zu beginnen, erwähnte ich die Begegnung Alberto Giacometti, Pierre Boulez und Igor Strawinsky Mitte der Sechziger Jahre und ob er davon wisse? "Nein".
Pierre Boulez, der zu Albertos Bewunderern gehörte, bat ihn, ein Plattencover, das er für die Einstudierung einer Komposition von Strawinsky brauchte, zu illustrieren. Alberto stimmte zu. Nach einiger Zeit trafen sie sich, um die Entwürfe zu besprechen. Alberto unterbreitete Boulez verschiedene Variationen eines Apfels; höchst verwundert stellte ihm Boulez die Frage , warum nur ein einziger Apfel, zumal es um eine Zwölftonmusik ginge? Albertos spontaner Einwand, dieser eine Apfel wäre wohl ausreichend! Boulez, bedacht darauf, Albertos künstlerische Impulse nicht zu tangieren, bat um wenigstens zwölf Äpfel, wenn es schon Äpfel sein müßten? Eher schon hatte er um eine Portraitstudie Strawinskys gedacht. Nun, man einigte sich auf zwölf Äpfel. Der Tag der Übergabe nahte. Gemeinsam sah man dafür ein Souper vor, zu dem auch Strawinsky erscheinen wollte. Die beiden Komponisten weilten bereits in einem noblen Restaurant, als Alberto hinzukam und wider Erwarten nicht den Entwurf mit den zwölf Äpfeln brachte, sondern eine Portraitstudie, die allen gefiel. Doch war Alberto gerade aus seinem Atelier gekommen, wo er sich schon im Anzug noch einige Zeit mit seinen nie enden wollenden Skulpturen eingelassen hatte, bis ihm wieder einfiel, daß er eine Verabredung wahrzunehmen gedachte. Dies tat er denn auch ganz unprätentiös, indem er sich in seinem, inzwischen zementgrauen Anzug, auf den Weg machte. Strawinsky, immer in der Rolle des "ästhetischen Puristen", war Albertos Äußeres zu arg; so würdigte er ihn kaum eines Blickes, was Boulez dazu bewog, den Abend über die unangenehme Figur des Unterhalters zu mimen, damit beide ihr Kennenlernen in guter Erinnerung behalten konnten.-
Ein flüchtiges Schmunzeln löste Diegos Mundwinkel. Bestimmt war ihm das nichts Neues; gehörte dies doch zum Habitus Albertos. Jedes Gewand verdeckte nur die hinfällige Kreatürlichkeit, um deren Darstellung er immerfort rang. Was tat es da, wenn man die ästhetischen Maßstäbe eines Herrn Strawinsky in Mitleidenschaft zog.
Diego saß immer noch starr. Im Gegensatz zu Alberto kam mir Diego in seiner "asiatischen Erhabenheit" - oder war es lediglich der nahende Tod? - wie ein Fremdkörper in dieser vulkanhaften Stadt Paris vor. Gleich seinen Bronzemöbeln, die etwas Verspieltes und doch Reines aufwiesen, eine Welt evozierend, die es nur durch ihn gab.
Unser unvermitteltes Zusammensein, was mochte es bei ihm auslösen? Befremden, Widerspruch? Hatte er sich und Alberto je als beispielhafte Individuen empfunden? Verlief ihr Leben nicht auch durch den schieren Zufall? Ich unterließ es, ihm all diese Fragen zu stellen - wo hätte es hingeführt? Sind doch die Worte eine Umschreibung des unmittelbaren Moments, damit der andere und man selbst Teil hat am Augenblick. So schwiegen wir, lauschten der Stille im Raum und fühlten den hereinbrechenden Abend. Schließlich verlor der Raum seine Weite, die ich durch die Jahre währenden Vorstellungen von ihm hereingebracht hatte, wurde alltäglich, historisch, gelebt, nurmehr aus meiner Einbildung bestehend: Adieu Diego, adieu Alberto Giacometti. Ich brach auf....Paris nahm mich in seiner nächtlichen Rastlosigkeit auf und verwies mich auf die Gegenwart.

Gerhard Götze
Bekenntnis 1990

Carl Einstein


»Mon cher...
dites à Lydia tout mon amour our elle.
C'est fini.«
Carles

Die Apercus Pascals, Augustinus' Bekenntnisse - und das Schweigen der Wände, die gegen das innere Beben anstanden, zelebrierten die hereinbrechende Nacht.
Keiner nahm in dem Zisterzienserkloster, meiner letzten Zuflucht, etwas wahr. Geräuschlos schloß ich die Kammertür hinter mir, trat hinaus, die sternklare Nacht umschloß mich. Plötzlich ward alle Bitternis der Jahre dahin. Selbst jegliche geistige Erkenntnis verlor ihren Wert. Ich, Carl Einstein, Publizist, Kulturphilosoph, Romancier, indessen fünfundfünfzig Jahre alt, nunmehr ein gewesenes Fatum.
Meine Schritte führten mich geräuschlos über die Kieselsteine des Vorhofs. Allmählich verlor die zurückliegende Kulisse an Deutlichkeit. Nacht, und nur Nacht! War ich mir je näher? Nie mehr wollte ich ein Geräusch sein. Einfach nur bedeutungslos. War es nicht das, das ich all die Jahre aus den Augen verloren hatte?
Und nun dieser Augenblick; was zählt da eine Zeitspanne?
Allmählich berichtigte ich meine Schritte, trat seitwärts ins Pappelwäldchen von Peu. Die Nacht umfing mich mit ihrem gleißenden Luftzug. Immer ferner vernahm ich das Zikadengeräusch. Die unverbrüchliche Stille an der Waldöffnung nahm mich auf. Wie hatte der Abt des Klosters zu mir gesagt?
"Du kannst einer der unseren werden, doch stele zuerst die Frage an dich selbst! Bislang warst du ein Mensch der Aktion und eigentlich immer oppositionell. Kannst du dich je in einer Gemeinschaft zurechtfinden?"
Ja, ja, dies war sein Tonfall. Emigrant, Flüchtling, Jude, Kosmopolit.-
Die Pappelstämme riefen eine Vielzahl von Silhouetten hervor, so daß sich jegliche Spur von mir verlor. Mitten auf einem Moosplatz ließ ich mich nieder. Kurzentschlossen entblößte ich den linken Unterarm. Durch ständige Ballung der Hände hob ich die Venen hervor. Ein kurzer Schnitt mit der Rasierklinge und die Apokalypse des 20. Jahrhunderts fand für den Augenblick ein hoffnungsvolles Ende.

Gerhard Götze
Nachruf 1988/89

Michel Seuphor und seine Freunde


Paris ist allseits bekannt. Auf der Avenue Emile Zola staute sich die Autokolonne an einem beliebigen Tage. Mitunter erhellten die aufscheinenden Sonnenstrahlen den ansonsten bewölkten Himmel, stimulierten die zahllosen Tauben auf dem Dachrinnensims der umliegenden Häuser. Ich war auf der Fährte einer vergangenen Avantgarde, deren Fortune alle Ressentiments des politischen Alltags hinwegfegte. Schließlich bezeugten ihre Namen eine ästhetische Manifestation: Arp, Brancusi, Delauney, Janco, Kandinsky oder Mondrian, gleichviel überwanden sie die Schmach dieser Epoche in inner- oder äußerer Emigration.
Nach dem zweiten Weltkrieg firmieren ihre Namen im Gefolge gesellschaftlicher Läuterung und bildeten die Equipe des aus den Trümmern Europas erwachten 'neuen Weltbildes'.

Die Zeitläufte überdauert, traf ich Michel Seuphor alias Fernand Berckelaers. Indessen Michel Seuphor, 82.
Viele Berufungen zeichneten ihn aus: Poet, Herausgeber von HET OVERSICHT , einer kleinen konstruktivistischen Zeitschrift, Kulturphilosoph, Initiant und Mitbegründer der Gruppe CERCLE ET CARRÉ (1929). Seine Vita vermerkt die Phalanx der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts als seine Freunde, die gleich ihm das Ideal beschworen und von der Realität düpiert wurden.
Im Verlauf rief Michel Seuphor Namen wach, die mir die Neigung über Jahre wohlwollend soufflierte. Erkannte ich doch, daß mir nur der öffentliche Widerschein dieser Künstler geläufig war.
Mußte nicht Mondrian bis zum Ende der dreißiger Jahre sich von Linsensuppe ernähren, weil ihm ein Bildverkauf versagt blieb? Von dieser Widrigkeit erlöste ihn erst Kathrine S. Dreier, die mit Marcel Duchamp in Amerika die 'Société Anonyme' gegründet hatte, welche Geld in den begüterten und liberalen Kreisen sammelte, um dieses in einer exzeptionellen avantgardistischen Kollektion anzulegen, die nachher als Wanderausstellung durch die USA zirkulierte und große Beachtung fand.
Auch Serge Charchoune, ein russischer Konstruktivist und Poet, ebenfalls in Paris sein Glück suchend (zeitweilig weilte Charchoune auch in Berlin), schlängelte sich durch die Niederungen des täglichen Lebens, indem er für eine Konfektionsfirma, die ihn mit Metrobillets entlohnte, die Ware auslieferte. Die Carnets verscherbelte er auf dem Schwarzmarkt unter Preis, wovon er seinen Lebensunterhalt bestritt, und die Wege ging er entweder zu Fuß oder nahm sie per Fahrrad.
Auf Drängen von Théo van Desburg, dem d e-Stijl Puristen, veränderte Michel Seuphors Zeitschrift HET OVERSICHT ihr Programm. War sie anfangs dem Flamen- ind Wallonenstreit verpflichtet, wurde sie nachher ein progressives, dem Konstruktivismus verschriebenes Organ, deren jede neue Ausgabe von dem beständigen finanziellen Ruin ihres Editors bedroht war. Dies hinderte die gleichgesinnten Freunde - Arp, Huszar, Gabo, Pevsner, Stazewski, Vordemberge, Gildewart - nicht daran, erenut eine Nummer der Zeitschrift unter der alleinigen Ägide ihrer Vorstellung zu gestalten.
Durch das internationale Forum von HET OVERSICHT ergab sich allmählich das Terrain zur Gründung der Gruppe CERCLE ET CARRÉ , deren Bestreben ein Bollwerk gegen den öffentlich überbordenden Surrealismus in Paris war. Von dem man annahm, ihn mit geistigen, in konstruktive Elemente gefaßten Stil seiner Lautmalerei abspenstig machen zu können. Allerdings debütierte CERCLE ET CARRÉ ausgerechnet 1930 in der Galerie 23, Rue de la Boétie, der Galerie, die bislang dem Surrealismus als Forum diente.
Außer Kandinsky und Mondrian, nahmen Baumeister, Le Corbusier, Marcel Cahn, Schwitters, Vantangerloo und viele andere daran teil.
Doch allmählich gerierte das geistige Postulat CERCLE ET CARRÉ 's zur Metapher. Entsprach es doch nicht dem allgemeinen Verständnis. Mitunter bewölkte gar das eigene Firmament diese Stilrichtung. Unversehens wird CERCLE ET CARRÉ zur Totgeburt. Und dennoch mutiert die Gruppe nochmals in neuer Formation als ABSTRACTION CREATION.
Doch der élan vital ist passé. Pluralität bestimmt den Exodus, der wie zuvor CERCLE ET CARRÉ auch ABSTRACTION CREATION ereilt.
Ohne Widerruf verkünden Hitlers Vorboten in der französischen Nationalversammlung die Kluft der disparaten Interessen. Europa rüstet für das Schlachtfeld, beraubt sich geistiger Mündigkeit.
Indes weilt Michel Seuphor fern des aktuellen Geschehens in der Schweitz. Hier konzipiert er seine Schrift METAPHYSIQUE DE L'ART. Gelegentlich zieht er als Skripteur und Propagandist konstruktiver Tendenzen in die europäischen Zentren.
In Berlin trifft er auf beklemmende Armut, die die Trottoirs säumt. Durch Herwarth Walden, den STURM Herausgeber und Galeristen, begegnet er einer kosmopolitischen High Society, deren Neugierde und Erlebnishaftigkeit dem neuesten Trend der bildenden Kunst und Literatur gilt. Der Spott auf den Alltag und die niedergehende Weimarer Verfassung zeichnet ihr Vermächtnis. Einer diffusen Zukunft wird das Wort geredet.
Und doch, allmählich verklärt die Gegenwart die Vergangenheit.
Erneut beschwört Michel Seuphor die 'alten Ideale', wird zum unberufenen, posthumen Chronisten einer kurzzeitigen, hoffnungsfrohen Bewegung
ihrer Akteure, die das Wort mit der Tat in Einklang zu bringen suchten und ihm dadurch Dauer gaben.

Gerhard Götze
Ausstellungskatalog 1989

J.W. Müller in ‘Trophäen’


»Zweifellos verlangt der Geist der Zeit
nicht nach Gefälligem: seine Aufgabe
bleibt das immanent Erhabene, nämlich
anzuspielen auf ein Undarstellbares, das
nichts Erbauliches an sich hat, sondern im
Unendlichen der sich wandelnden
‘REALIEN’ liegt

Jean Francois Lyotard

Vergegenwärtigen wir uns die Bildsprache, die jenseits tradierter Elemente Gegenwart schafft: ihre Bestandteile streifen unterschiedliche semantische Perspektiven.
Konstatieren wir den Wandel, den immerwährenden Wandel...
...Die seelische Befindlichkeit erlitt einen irreparablen Kollaps. Der verwegene Blick des Selbst auf sich selbst verstellt die Ursache. Was innen fühlbar wird, wird außen nicht mehr hörbar...
...Stummheit zeichnet die Stunde, befangen in ihrer Topographie.
Bezeichnen wir das Nichts und beginnen dort, wo der Fluch uns ereilte zu artikulieren.
...Leere, endlos...! Splitter, wenige Rudimente, eine vage Idee: Zweifel! Idee und Zweifel bezeugen augenblicklich eine Gratwanderung. Und dennoch verbleibt nur für Zeit kühner Mut.
...Wird er je?

Nichts mehr wird die Vorstellung behindern zur verselbständigenden Motorik zu werden: just ein Puzzle aus dem Nichts, dessen Angst sich paart mit Zweifeln für den Moment.

Gerhard Götze
SPUREN in Kunst und Gesellschaft, No. 21, Nov/Dez 1987

Pierre Boulez - ‘Respons’
Eine Komposition des ausgehenden 20. Jahrhunderts


Im Gare de L'Est, in Paris, endete der Zug. Eines der in Paris raren Taxis brachte mich umgehend zum Centre Georges Pompidou, wo "REPONS", das neueste Werk von PIERRE BOULEZ zur Aufführung stand.
Der Zuschauerandrang ließ alle Vergleichsmaßstäbe antiquiert erscheinen. Pierre Boulez und sein ENSEMBLE INTERCONTEMPORAINE schien hinter all den erwartungsvollen Köpfen hervor. "Tout Paris" oder jeder der daran Gefallen fand, hatte sich eingestellt, diese bislang nur an drei Orten aufgeführte Komposition wahrzunehmen.
"Repons", eine Komposition, mehr ein Klangszenario, für Körper und Gehör. Polyphon wie der Straßenverkehr auf dem Montmartre. Zeichenhaft und furios. Und noch immer Fragment wie uns der Komponist wissen läßt.
Bisherige Aufführungen, ob in Donaueschingen, Mailand oder London, oder jetzt in Paris, allemal waren sie nicht identisch. "Repons", eine "variable Komposition" für sechs Solisten, Kammerensemble, Computerklänge und Life-Elektronik, deren endgültige Fertigstellung der Maestro für 1990 angekündigt hat.
Mitte der fünfziger Jahre experimentierte Boulez schon mit ähnlichen Klangkörpern in seiner Komposition "Poesie pour pouvoir", verwarf diese jedoch, da sie noch von den Unzulänglichkeiten dieser Jahre geprägt war.

Indes die Computerchips, eine ausgeklügelte Technik der achziger Jahre, ihm die Möglichkeit bot, diese Komposition zu realisieren. Die dazu taugliche "Wundermaschine", den Computer Vier mal Zehn, entwickelte Pierre Boulez mit Guiseppe Di Giugno; einen Allroundcomputer, wie er einzig nur in den Studios des Musikforschungszentrums des IRCAM-CENTERS (Institut de Recherche et Coordination Acoustique Musique), dem Boulez in Paris vorsteht, und als Spiritus Rector die nötige Innovation weist, existiert. - Denn ohne diese technische "Brücke" wäre "Repons" nicht aus der Taufe gehoben worden.
Schwindelerregend mutet schon die Partitur an: Din A 2 im Format und bislang zweihundert Seiten umfassend.
Und wer die Uraufführung unter der Leitung des Ensembledirektors von "Intercontemporaine", Peter Estvös, 1981 erlebte und dann noch die nachfolgenden Aufführungen hörte - wobei "hören" hierbei deterministisch zu verstehen ist - dem offenbarte sich jedesmal ein neuer Aspekt, der für Irritation und Überraschung sorgte.
Primäres Anliegen dieser Komposition ist der Klangraum - und in seiner "Abstoßung" - der Raumklang, der den herkömmlichen Begriff des Konzertsaals bei "Repons" neu bestimmt. Hierbei ist die räumliche
Disposition ein wesentlicher Teil dieser Komposition: mittseitig des Raumes befindet sich eine rechteckige Bühne, worauf das Kammerensemble plaziert ist: zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, eine Baßklarinette, zwei Fagotte, zwei Hörner, zwei Trompeten, zwei Posaunen, eine Tuba, drei Violinen, zwei Bratschen, zwei Violincelli, ein Kontrabaß. Pierre Boulez dem Ensemble vis à vis als Dirigent vorgeordnet. Rechtsseitig davon sind Computer, Tonbandgeräte und diverses technisches Gerät aufgebaut, das von einem Team bedient wird. Im Sechseck aufgebaute Stuhlreihen umschließen die Bühne. Hinter dieser widerum befinden sich sechs Podeste, auf denen verschiedene Instrumente, je ein Tonbandgerät nebst Kontrollmonitoren im Wechselverhältnis stehen. Links- und rechtsseitig Raumlautsprecher, sowie an der Decke des Raumes. Auf benachbarten Podesten je ein Piano, eins und zwei, wovon das Linke gekoppelt ist mit einer elektronischen Orgel. Auf nebenstehenden Podesten noch ein Vibraphon, eine Harfe, ein Glockenspiel und ein Xylophon.
- Schnell und energisch, im Dreivierteltempo hundertachtunddreißig beginnt "Repons", dabei allerdings den Anschein einer "kammermusikalischen Suite" wiederspiegelnd, die auf ihrem Höhepunkt von einer Holz- und Blechsymbiose beendet wird.
Pierre Boulez während des ganzen Verlaufs statisch, aus dem Hüftgelenk heraus nur mit den Fingern dirigierend.
- Bestechend das musikalische Geflecht, die Struktur: Materialaustauschprozesse zwischen Instrumentengruppen; antiphonisches, refrainartiges Wechselspiel; raffiniert organisierte Arpeggien, oszillierende Klänge, überreich an Farbnuancen, brüske Rhythmik, Polymetrik, Resonanzeffekte (I.Ahmels) bestimmen das weite Feld dieser Komposition. Sofort drängen sich Assoziationen an ethnologische, soziologische und philosophische Konglomerate auf, die in dies Boulezsche Opus unserer Zeit eingegangen sind, deren Lauf durch den Raum, durch das Gehör und durch die Körper der Zuhörer wie ein Initiationsritus wirkt. - Ähnlich einer Reise, die uns zu Gestaden bringt, welche nie Wahrgenommenes offenbaren.
Und wie diese Reise begann, so abrupt und unvermittelt, endet sie: Noch fühlt der Zuhörer Klangsequenzen in sich zurückgelassen. Die räumliche Stille nimmt sich wie eine Verheißung aus: war es nur ein Traum?

Gerhard Götze
Skulpturen von ANNETTE JAUSS - Katalogtext, 1989

Gib mir einen Punkt, wo ich stehen kann, und ich werde die Erde bewegen…


»Das ist nicht wahr, daß wir alle gleich sind und daß jeder über den anderen sprechen kann.«
Witold Gombrowicz

Die skulpturale Form ist wie die Ahnung einer Silhouette, sie in anthropomorphen Eigenschaften erscheinen zu lassen, ist Herausforderung und Wagnis. Begründet nicht alles Sein sein Dasein?
Ein entblösstes, verletztes und zugleich wieder höhnisch dreinblickendes Menschenbild tritt in den Skulpturen von Annette Jauß zutage, deren Stummheit, gequälte Belustigung, ihr Antlitz bestimmt. Ist es nicht die Erhebung über den inneren Abgrund, die der Form erst ihren Ausdruck gibt, sie aus der Vorstellung ins Dasein ruft?
Dellen, Schründe, amorphe Physignomien, die kenntlich werden in gebeugter, verzagter Haltung, einhergehen mit dem Widerruf, dem Moment der Werdung und der Vergänglichkeit des Augenblicks. Fast Wehrlose in einer wehrbaren Welt, sind sie gefährdet am Ort, in sich selbst; stigmatisiert in einer wehrhaften Welt, außerhalb der Normalität, gebricht es ihnen in fremden Räumen.
Nicht einmal allfälliger Achtsamkeit werden sie gewahr, verkörpern sie doch das Leiden, das den Wesenheiten seine individuelle Bedeutung zuerkennt. Und in ihrer Statur sind sie lautlose Rufer einer Form, einer steten Veränderung. Hierbei läutert sich ihr Fatum aus der Mythologie oder dem Alltäglichen. Sie gebieren den Widerspruch, der ihre Form ist, zur Welt, in deren Mitte sie ihren Platz suchen.
"Frau Hortense", "Archimedes" oder "Adam und Eva" machen kenntlich, belegen die Übereinkunft des Kulturraumes, dessen archetypische Erscheinungen sie spiegeln, welche sich in drei unterschiedlichen Materialien verkörpern, nämlich Stein, Zement, Bronze. Dies die nuancierten Erscheinungsweisen der Skulpturen: spröde, rauh, bisweilen eckig und abweisend ist der Zement in seiner skulpturalen Form. Seine schroffe "Häutung" gibt ihm mitunter Mahnmalcharakter.
Im Gegensatz dazu die Steinskulpturen in Basalt oder Marmor, gleichsam in fließender Kontur dem Klang des rhythmischen ununterbrochenen Fäustelschlags auf den Meißel verpflichtet, der am Steinblock der Eingebung gehorcht.
Und die Bronzeskulpturen erscheinen von wuchtigen Malen gezeichnet, eingedenk ihrer geadelten Materialität. Ihr Impetus ist zugänglicher, nahbarer als das ihrer roheren Gleichnisse.
Noch Ende der siebziger Jahre wiesen die Skulpturen von Annette Jauß ein homogeneres Maß auf, da diese mehr der Tektonik verpflichtet waren, mehr dem Ebenmaß huldigten, wohingegen bei den jetzigen Skulpturen das Sediment ihr Vermächtnis ist.

Gerhard Götze
Heinrich Stichter - Katalogtext, 1990

Heinrich Stichter
Malerei wie ein Melos…


»On raconte ses petits contes terrestres à travers de petits bouts de papier.« WOLS

Die Fläche bestimmt die Geographie, einen Radius; ihre Individualität dauernde Befindlichkeit.
Der Maler HEINRICH STICHTER kam daher, wohin er nach der Ausbildung an der Münchner Akademie wieder zurückkehrte. Ihn zog es nicht in die Metropolen. Stattdessen gestaltete er ein bisher der Öffentlichkeit fast vorenthaltenes Werk über drei Jahrzehnte, das vom Kubismus über die Matgerialcollage zu einer Planimetrie mit gestischem Duktus kam. Hierfür beispielhaft sind Kreuz- und Kreisform, die diskontinuierliche Bildebenen bezeichnen, in einem temporären Lineament Verschränkung, Bejaung erfahren.
Hierzu dienlich sind Spachtelmasse, Eisenringe, Hanfseile usw., die sowohl als Positiv- wie Negativform augenfällig werden. Diese strukturieren eine Fläche, deren Selbstverständnis verlustig ist, den Widerstand der Einebenung kenntlich machen. Jede dabei belegte Geste referiert Hoffnung und Versagen.
"Die Suche nach dem absoluten Bild" stand seit je im Vordergrund. Dazu ergab sich immer wieder die Zufälligkeit der Dinge, die achtlos umherlagen und Heinrich Stichters Wege kreuzten, Metaphern seiner Bildrealität wurden.
Die Collage - wie Décollagebilder währten ein Jahrzehnt, deren auslösender Moment auf Dauer die leere Fläche blieb. Schließlich kam die Collagetechnik einem in diesen Jahren vorherrschenden, ordnenden Grundgefühl nah, das eher der Tektonik wie der Spontanität verpflichtet war. Erst in den siebziger Jahren trat ein gelöster gestueller Grundzug zutage. Ihm erwiesen Bilder wie "Monde", "Gefurcht" Referenz, obgleich noch Einflüsse der Collage spürbar hervortraten, die zu den Bildern verweisen: "Bezeichnete Stelle", "Geologisches", und dem Heer des übrigen Oeuvres, das im schöpferischen Fluß nachfolgte.
Kurzum: diese Phase thematisierte statt der reinen Materialcollage mehr die Tendenz zur Mischtechnik, deren unebene Oberfläche dem Relief zuneigte. Dies auch in dem Maß, daß Heinrich Stichter die Holzfläche , wenn er eben Holz als Träger verwandte, mit einer Negativstruktur (Einritzung) durchfurchte, die ihrerseits die Holzmaserung als Bestandteil des Bildes gebrauchte. Dieser Aspekt zeigt , in welcher Heftigkeit Heinrich Stichter den Zerstörungsprozeß einbezog, der die Dualität zum immerwährenden Bild formt.
Ihre nivellierendere Periodisierung finden diese Bilder mehr im gestischen Vollzug der ausgehenden siebziger Jahre: die Kontur zentriert Masse, die schwungvoll gesetzt ist, dabei spielt ihr Ausmaß nur eine augenblickliche Rolle, mehr ist ihr Tenor das Gesamt, getragen von der rauschhaften Geste, dem Auftrag. Im Vordergrund steht das Signal, das Wähnende, die blitzartige Rhythmisierung, ihr Augenschein: Gesichte, die ihres Selbstverständnisses harren.
Das Hastvoll-Rastlose widerscheint ihrem Erscheinungsbild, das mit breitwandigem Pinselauftrag bezeugt wie verdeckt. Ähnlich Gasen im Reagenz: ihr Erscheinen verbleibt im Unscheinbaren, erst die Kenntnis ihres Seins gewährt Einblick in ihre Substanz.
Dies die Dimension, so, daß die SICHT DER DINGE die Übereinkunft traf.
Gemeinsam traten wir aus dem Atelier, nahmen im umfriedeten Garten Platz, in dessen Carré ich einige Bilder zu plazieren bat. Unser Einvernehmen erübrigte der Worte, desto mehr maßen wir die umstehenden Bilder.
Nunmehr lag die diffuse Atmosphäre des Atelierraums hinter uns. Und der Eindruck der großen Leinwände war unverwischt: sie maßen den Moment und die Wahrhaftigkeit des Seins.

Gerhard Götze

Inmitten der Metamorphosen Toni Stadlers

Ein Besuch in seinem Bogenhausener Atelier, 1985


»Überall sehen wir, daß das künstlerische Tun am reinsten war, solange sich die Menschen mit ihrem Eigensten begnügten und gar nicht erst versuchten, daß sie ihr inneres Bild der Schöpfung am äußeren Bild der Natur maßen und korrigierten«.
Toni Stadler

Nach kurzem Klingeln vernahm ich allmählich hinter der Haustüre schlurfende Schritte den Flur entlang kommen; die ür öffnete sich, ein dem alten Matisse ähnelnder Mann stand mit fragendem Blick vor mir.
Eine bejahrte Baskenmütze verdeckte die Stirn. Die liebevollen Augen hinter dickwandigen Brillengläsern luden zum Eintreten ein.
Gleich eingangs erklärte ich mein Erscheinen, worauf er sich entschuldigte, seine Frau sei nicht zu Hause, deshalb sähe es ein wenig turbulent aus. Ich nickte und trat mit ihm ins Wohnzimmer, das von einem großen Atelierfenster bestimmt wurde, welches den Blick unmittelbar in den Hofgarten freigab, wo Nymphen, männliche und weibliche Torsi inmitten einer regsamen Vegetation standen.
Schließlich wies er mir den Platz zu, schaute mich gelegentlich an und verfolgte die Neugierde meiner Augen, die sich inzwischen an der einen oder anderen lavierten Aktzeichnung verloren hatten. Bisweilen gab er einen Kommentar dazu, um abermals in Schweigen zu verfallen und m Fenster zu schauen. Der Raum, kärglich möbliert, vermittelte doch eine warme Atmosphäre. Rechts, gleich neben der Eingangstür, ein großes Bücherbord, in dem die "Quellen" seines jahrzehntelangen Schaffensaus de einzuseehn waren.
Ob ich etwas trinken möchte? "Gerne!" Worauf er sich erhob und im Korridor verschwand. Als ich ihn so von hinten gehen sah, hatte ich nicht den Eindruck, die Statur eines Bildhauers wahrzunehmen. Ein fast schmales Kreuz, durchaus feingliedrige Hände. Das Sakko, das ihm über der Schulter hing, betonte den schlacksigen Gang.
Im Hofgarten spiegelte sich die Nachmittagssonne auf den Pflanzen und dem Ensemble der Plastiken.
Er stellte das Glas vor mich hin und nahm wieder vis à vis Platz.
Über seine Zeit als angehender Bildhauer bei Maillol, wollte ich näheres von ihm hören. Ein wohlwollendes Lächeln trat in sein Gesicht:
"Ja, gute Menschen waren das. Mein Französisch war miserabel, trotz allem, eine Herzlichkeit und Brüderlichkeit! Sie müssen bedenken, noch warf der erste Weltkrieg seine Schatten. Wu nderbare Menschen. Der Kreis um Maillol mehr als bescheiden. Für mich war ja das Klima vorgegeben. Es bestand eine Freundschaft zwischen Henry Graf Kessler, Maillol und Hugo von Hoffmannsthal. 1908 unternahmen sie miteinander eine Reise zu den antiken Stätten. Auch in späteren Jahren pflegten sie regen künstlerischen Austausch."
Je mehr er sich in die Vergangenheit redete, desto mehr strahlte sein Blick, beschleunigte sich sein Redefluß.Inwischen war er selbst betagt, schien es jedoch in den Momenten der Erinnerung zu vergessen.
Sein Werk, als ich darauf zu sprechen kam, berührte ihn plötzlich als Lebenswerk eher verlegen. Wie sehr stand ihm nun das Werk Maillols, selbst das seiner Frau, Priska von Martin, näher und höher. Was war es, das ihn Abstand, Distanz von seinem Oeuvre nehmen ließ? Das Alter, in dem man immer sehr vieles was davorliegt mit zu kritischem Verstand besieht und stattdessen nochmals ein gültiges, einzig gültiges Alterswerk schaffen möchte? Nun, ich wollte nicht weiter in ihn dringen, begnügte mich mit seiner Reaktion; währenddessen strich er ab und an die Plastiktischdecke glatt.
Seinen Äußerungen war nichts hinzuzufügen. Stille trat ein. Die urwüchsige Vegetation im Hofgarten bewegte sich leicht im Wind.
Stadlers Atelier, in dem Licht gebrannt hatte als ich klingelte, lag noch vor mir. Die erste Begegnung mit seinem Werk hatte ich als Jugendlicher am Frankfurter Marschall-Brunnen, ohne noch den Namen Toni Stadlers zu kennen. Bruchstücke seines Schaffens nahm ich später auf Ausstellungen wahr, wobei mich die mittelgroßen Torsi am ehesten ansprachen. Gerade ihre zum Teil amorphe Oberfläche rief bestimmte Reiz hervor.
Diesmal wollte ich jedoch möglichst "viel" sehen, in die Atmosphäre seiner Arbeitsstätte eindringen.
Als ich ihn danach fragte, trat wieder das mir inzwischen vertraute Lächeln in sein Gesicht. Die Versunkenheit in der Stille war durchbrochen. Ja, auch darein könne ich Einblick nehmen. Er stand von seinem Stuhl auf, trat an das seitwärtige Schlüsselbrett, das gleich neben der Ausgangstür zum Hofgarten angebracht war, die das fenster zum Raum hin begrenzte, und nickte mir auffordernd zu. Ich folgte ihm die wenigen Stufen zum Hofgarten, an dessen rechter Front sich sein Atelier befand. Einige neben der Tür plazierte Gipsgußformen trugen schon die Spuren der Zeit. Wie lange mochten sie schon dort stehen, Jahre, Jahrzehnte?
Schließlich drehte er mehrfach den Schlüssel im Türschloß um und öffnete die Türe sperrangelweit, verharrte indes selbst am Eingang. Zuerst war ich verlegen, allein einzutreten, doch dann überwand ich mich und tat einige Schritte hinein. Der Raum, nicht einmal groß, mit längsgezogenen Oberlichtfenstern, durch die das hereinfallende Licht verschieden große Quadrate auf dem blanken Fußboden bildete. Einige Zement- und Mörtelsäcke, neben ihnen zerbeulte Eimer, schufen das handwerkliche Ambiente. Rechter Hand davon ein prall gefülltes Regal mit Portraitbüsten. Die eine oder andere erkannte ich durch ihre zeitgeschichtliche Gebundenheit, andere wiederum vermittelten mir nur ihren plkastischen Widerschein. Verschieden große Torsi umsäumten den Raum in seinem äußeren Rahmen. Die Fülle des Vorhandenen machte mich im Moment etwas sprachlos.
Toni Stadler stand noch immer an der Frontseite der Eingangstür, gelegentlich hob er zu einer Anmerkung an, die er jedoch nicht zu Ende führte. Vielleicht wollte er sehen, wie ich mit seinen Arbeiten "zurechtkomme" und nahm deshalb die Position des Beobachters ein?
Ab und an entnahm ich dem Regal eine handliche Portraitbüste, die ich in den Händen hin und her drehte, mit den Fingern ihren Linien nachspürend - seinem schöpferischen Credo folgend, daß der haptische Umgang mit dem Material ein ausschließlich erotischer sei, dem er sich seit je verbunden fühle.
Die Vielzahl der vorhandenen Arbeiten ließ auch die verschiedenen Phasen seines künstlerischen Werdegangs offenkundig werden. Die frühen, fast noch klassischen Portraitbüsten, wurden allmählich in freiere Formen" aufgelöst. In ihrer Formation spiegelten sie ein über achzigjähriges Ringen um die Form wider, dem er offenbar mit gemischten Gefühlen von der Tür aud zusah.
Die hinterücks zu mir plazierten Bronzetorsi erweckten allmählich mein Interesse, so daß ich mich von den Portraitbüsten abwandte und mich diesen mir näher stehenden Skulpturen näherte. Zum Teil trugen sie noch Mörtelreste auf ihrer Patina oder warfen ihren Widerschein in den Raum. Verschieden groß in ihrer Proportion, riefen sie meine Aufmerksamkeit hervor.
Linksseitig ein kleiner männlicher, in bräunlicher Patina gehaltener Torso faszinierte mich unversehens. Seitwärts davon auch eine weibliche Bronzeskulptur in hockender Haltung. So trat ich von der einen zur nächsten, die Unterschiede ihres Aufbaus, ihre Proportionsverteilung, ihres Alters abwägend. Ein sehr versteckt stehender kleiner weiblicher Torso, den ich bis dato nicht wahrgenommen hatte, erweckte nun meine Neigung. Zuerst besah ich ihn aus der Entfernung, dann trat ich hin und nahm ihn zur Hand, auch dieser noch voller Mörtelreste. Nach einer Weile fragte ich Toni Stadler nach dem Preis. Noch immer stand er reglos in der üröffnung. Er schwieg. Nachdem ich keine Erwiderung vernahm, fügte ich hinzu: eigentlich hätten diese "Dinge" keinen Preis. Worauf er lächelte. Nun trat ich einige Schritte zu ihm hin, er nahm die Skulptur, besah sie underwiderte:
"Wenn diese 'Dinge' keinen Preis haben, schenke ich Ihnen die Skulptur! Woraufhin ich mich herzlich bedankte und mit einer reichen Geste versehen, meinen Nachhauseweg antrat.

Gerhard Götze

Mit Ursula von Kardorff im Casino


Das Freizeichen des Telefons ertönte mehrfach.
"Kardorff", meldete sich eine herbe, jedoch nicht abweisende Stimme. "Empfehlung von Sowieso", brachte der Anrufer vor. Was die Angerufene höflich überging.
"Kommen Sie morgen,am besten zur Tischzeit, ich lade Sie ein!"
Der Eingeladene wartete um die angewiesene Zeit im Foyer der SZ. Alsbald trat ihm eine ältere, großgewachsene Dame entgegen; berlinischer Akzent. Eher die Chefin eines Betriebes denn die Journalistin Ursula von Kardorff. Miteinander betraten sie den Lift. Behutsame Annäherung der Worte.
Im Casino angelangt. "Nehmen Sie, wonach Ihnen gelüstet!"
Der Beehrte blickte erst einmal durch die Stuhlreihen, manch bekannte Person saß bequem darauf. Die Bedienung trat hinzu: "Hirschrücken und einen Rotwein", erbat der Eingeladene. "Gulasch und Spätzle", verlangte Ursula von Kardorff.
Die Manuskriptseiten knirschten in der Handfläche des Besuchers.
"Lassen Sie mich einen Blick hineinwerfen", erlöste ihn Ursula von Kardorff.
Nichts ließ er lieber geschehen; und doch, Zweifel ob seines schriftstellerischen Könnens überfielen ihn.
Frau von Kardorff rückte ihre Brille zurecht. Dem Verfasser schwante schon mancher Lapsus.
"Zu eng geschrieben", richtete die Leserin ihr Augenpaar über den Brillenrand.
"Hoffentlich lesen diese Herren dies überhaupt!"
Also doch ertappt! Rasch trank der Eingeladene einen Schluck Wein, damit seine Replik tränkend.
"Ah, ja, ein Versehen! Falls es Ihnen Mühe bereitet..., lese ich gern vor."
"Achwo - Essen's mal derweilen."
Wieder nahm der Eingeladene Messer und Gabel und schnitt bedächtig an dem Hirschrücken, während seine Augen dem Zeilensprung der Leserin folgten.
"Wie stehn Sie zu dieser Gestalt, über die Sie hier schreiben?"
"Gut!"
"Mir ist sie auch sympathisch", pflichtete Frau von Kardorff bei. - Lesen Sie mein Buch BERLINER AUFZEICHNUNGEN - darin fuguriert auch allerhand Bohème!"
"Es ist mir bekannt."
"Dann wissen Sie ja, daß ich die Tochter des Malers Kardorff bin."
Was der Eingeladene mit einem geflissentlichen Nicken bestätigte.
"Wie kam Ihr Protagonist als 'Peintre maudit' ins mondäne Pariser Hotel Montalambert?"
"Durch Jean Paul Sartre und einen kleinen Freundeskreis, der ihn unterstützte. Außerdem war es sein Wunsch dort zu sterben!"
"Ich erinnere mich, das war vor dem Krieg ein vornehmer Laden."
"Bestimmt?"
"Ich weiß es gewiß! In dieser Zeit war ich Korrespondentin in Paris."
"Kennen Sie den Essay von Sartre über WOLS? Er beginnt sehr schön: "Wols habe ich kahlköpfig, mit seiner Flasche und seiner Tragtasche im Jahr 1945 kennengelernt. Die Tasche enthielt die Welt, seine ganze Sorge - die Flasche seinen Tod", deklamierte der Skribent unvermittelt.
"Aber ja doch! - Übrigens: Ihr Text ist wenigstens kein Nekrolog, angenehm! Gefällt mir. Will sehen, was ich tun kann!"
"Danke!"
"Was machen Sie außer solchen Texten?"
"Ausstellungen - wie zum Beispiel über Wols in Paris.
"Bis dato ein brachliegendes Feld?"
Eine direkte Antwort vermeidend, tunkte der Eingeladene das letzte Stück des Hirschrückens in die Soße.
"Kann man davon leben?"
"Die Bestätigung ist dabei der größte Etatposten!" (Den Kampf um die öffentlichen Mittel unterschlug der Befragte).
Ursula von Kardorff schaute diskret nach der Zeit an ihrem Arm.
"Ich muß wieder", drängte sie stilvoll zum Aufbruch.
Gemeinsam nickten sie in die Runde der Anwesenden und brachen auf.
"Ihre Telefonnummer habe ich ja. - Dann auf bald! Fanden sie eigentlich einenParkplatz?"
"Ich kam mit dem Fahrrad."
"Das hält gesund!"
"Ja, das hält gesund."
"Adieu!"
"Auf Wiedersehen, Frau von Kardorff!"

Gerhard Götze

Invisible - Invibile
Bartolomeo Migliores transfigurierte Welt


Die Allmacht der Linie transzendiert Raum, Zeit und jede individuelle Einbildung. Die Linie ist tausendfältig seit Bestehen des Planeten Erde vorhanden. Bildnerisch transfigurierte die Linie schon die allerersten Darstellungen des Menschen, ohne ihr Geheimnis je preisgegeben zu haben. Umsomehr wird die Linie zur immerwährenden, zur aktuellen Herausforderung, zum Thema.
Migliore verwendet die Linie in narrativer Manier. Ein planer bis illusionistischer 'Raum', der das Bildgeviert tariert, ist Träger und Mahnmal ausgewiesener Schraffur, der die Linie in einer regen Ambivalenz ausschöpft, einem Abgesang wähnender Hoffnung. Die Linie umreißt die Flucht eines Luftschiffers in sphärische Räume, die dabei das menschliche Treiben topographisch belegt, deren nervöse Hinterlassenschaft (sprich: Spuren) in Stationen des Moments endet. Dabei geht sie keine verpflichtende Reverenz hinsichtlich der Male des Bildes ein, sondern kennzeichnet nur den Einfall auf dem Geviert der Fläche, der genausogut der leere Raum oder die uneingelöste Geste sein könnte.
Vielleicht ist der Akt, der handelnde Augenblick, vor der Einbildung, der den Widerstreit zwischen Handlung und Überlegung offenbart? Der Akt steht mitunter für das Gegenstandsfreie, wiewohl die Einbildung das Ding kenntlich macht. Auch Migliores Bilder sind die Ebene der Abstraktion vor dem Ding und zugleich ihre Versuchung. Weisen sie doch auf eine Barriere, auf ein ahnbares Terrain. Ihr Binnenraum höht die Gradation der Linie, die schlierend, nie in der Geraden verläuft. Abrupt ist ihr Erscheinen, der Verweis dorthin, wo die Zelebration der geläufigen Rede versagt. Ihr Lot reicht in einen Grund, dessen Einlösung selten erfolgt, berührt das zaghaft verborgen Aufscheinende. Die unschuldsvolle Berührung wird ihr Widerschein. Ihre Dynamik ist wissend um das Numinose des Schöpferischen.

Gerhard Götze
Katalogtext, 1990

‘Monument’ - Eine Installation von Sabine Fockner


»Aux soirs de grande sécheresse sur la terre, nous deviserons des choses de l'esprit.
An den Abenden großer Dürre auf Erden wollen wir reden miteinander von den Dingen des Geistes.«

Saint John Perse

Gleichsam ebenbürtig steht die Linie im Raum. Sie erscheint in verschiedenen Geraden, die der menschliche Verstand unterschiedslos bezeichnet; zweifelsohne ist sie das lebendigste Element der Geometrie.
Das Auge des Menschen ordnet, richtet in der Folge, was der Verstand präjudiziert hat. Entsprechend determiniert tritt die Linie in ihrer Häufigkeit in Erscheinung.
In der Installation MONUMENT begegnet der Beschauer der Linie in der Vertikalen: Vierzehn mittelteilig geknickte Rundeisen streben in Symmetrie zur Wand, zur Wandfläche als Verlauf. Die in fünfzig Grad stattfindende 'Brechung' der Linie, erweckt den Eindruck von Teilung, obgleich sie fortlaufend ist. Hierbei tritt die Wandfläche als Stütze zur Linie, zur Fläche, zum Zwischenraum als Äquivalent. In analoger Reihung treten sieben Linienpaare zur Wandfläche: sieben mehrschichtige, schollenartige Mittelteile aus Pflanzenfaser und Torf, von Hellgrau bis Schwarz, begrenzt und gehalten von je einem Linienpaar, treten materiell und strukturell in Dialog zu drei verkohlten Holzsockeln und bewirken autonome Brechungen der Linie. Diese treten in Korrespondenz zum Dreieck der Bodenfläche, welches durch die drei Holzsockel geschaffen wird -, und werden zum komplexen Monument in Vernetzung des Raumes.
Unverkennbar steht in dieser Installation das Statische zum Vegitabilen wie die Ziffer 7 als Formation in vergangene Kulturbereiche weist, deren Wiederkehr unausweichlich ist:
Gegenwart und Vergangenheit bezeugen für den Moment eine flüchtige Gemeinsamkeit.
Auch im bisherigen Schaffen Sabine Fockners ist die Linie immanenter Bestandteil. Ob es nun PETITE HISTOIRE, eine querformatige Pflanzenarbeit mit strukturell aufscheinender Verästelung oder FAHNEN ZU OST - WEST ist, wo Pflanzenfaser-Elemente in vertikaler und horizontaler Anordnung auf Pastikfolie ein Szenarium bilden oder in ZEIT , wo ein seildünner Bambuspendel eine querliegende Faserfläche, die in sich durch linienartige Einschnitte gekennzeichnet ist, bestimmt. Verweisen diese Arbeiten doch eindringlich auf SEQUENZ, BOTSCHAFT, auf GROSSER FETISCH, ZEICHEN I UND II von 1987 , oder auf SCHILD von 1986, wo die Linie zur Fläche tritt, was ein Merkmal der Arbeit der Künstlerin in diesen Objekten ist.
Im Unterschied zur Installation MONUMENT oder REST DER KOMPANIE oder den Materialcollagen von 1985/86,die eine Symbiose verschiedener Materialien suchen, sind die 86/87er Arbeiten aus reiner Pflanzenfaser 'destilliert', was ihre Fragilität und ihren künstlerischen Reiz kennzeichnet.

Gerhard Götze
NIKE NEW ART IN EUROPE No 67

Versuchung und Gleichklang

INGE BECKER


Die Konfiguration der gleich Grossen ist die Konfiguration der Vielzahl. Ihre Dynamik ist Wechselverhältnis und kollektives Gedächtnis. Hier kubische Formen, die gleich grosse Kraftfelder sind. Der Antagonismus bestimmt ihre Individualität und ihre Harmonie. Ihre farbliche Gewandung schafft z. T. unterschiedliche Formationen. Die konvexe oder konkave Flächen formieren oder Axialität in der Schwebe schaffen. Und doch, ihre Gleichung bestimmt Form, Formation, Ensemble, sprich: kollektives Gedächtnis. Es sind Teile eines Ganzen, die Anziehung und Abstossung zum Thema haben. Bestimmend ist der Kubus, dieser formiert sich im Geiste des Kollektivs. Individualität kommt dem Kubus nur zu, durch das immer Gleiche: Formation und Stereometrie schaffen das Bild als Vision, dem keine Autonomie eignet. Mitunter lösen sich Kuben, schaffen ein Selbstbild, das sich zugleich widerruft. Die Vielzahl der Kuben, die Vielzahl der Bilder; die Vielzahl der Kuben, ist die Vielzahl der Bilder: Serialität. Man denke auch an Simultanität, Klang, Gleichklang, Variabilität, Bewegung... Der Widerhall ist enorm. Bar jeder Bestimmung tritt die Polyphonie zutage, die Wahrnehmung aller Sinne fordert zu bestimmen, die Ordnung zu konterkarieren, um der Ordnung Willen. Und doch bleibt es bei der Einbildung, die Kuben bleiben gleich; ihre farbliche Gewandung intoniert den Ton der ewigen Wiederkehr, sie sind Mass und Bestimmung. Evokation der Künstlerin Inge Becker.

Ausgewählte Texte von
Gerhard Götze


JÜRGEN KLAUKE

TONY CRAGG

KUNO LINDENMANN

BERNHARD SCHULTZE

WILHELM JAEGER

URSULA SCHULTZE-BLUHM

HMR PRAETORIUS

SMAIL FERIZOVIC

FRANZ KOCHSEDER

HANNES STEINERT

PAVEL ZELECHOVSKY

ROLF HEGETUSCH

FRANCISCO FARRERA

WOLS

JEAN GENET — ALBERTO GIACOMETTI

DIEGO GIACOMETTI

CARL EINSTEIN

MICHEL SEUPHOR

J. W. MÜLLER

PIERRE BOULEZ

ANNETTE JAUSS

HEINRICH STICHTER

TONI STADLER

URSULA VON KARDORFF

BARTOLOMEO MIGLIORE

SABINE FOCKNER

INGE BECKER

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